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Warum ich lieber Bücher von Frauen lese

Illustration: Lucia Götz

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Ich habe eine persönliche Statistik für 2017 erstellt: Von den zwölf Büchern, die ich seit Januar gelesen habe, wurden drei von Männern und neun von Frauen geschrieben. Drei Viertel Autorinnen, ein Viertel Autoren. Ein Blick in mein Bücherregal zeigt mir, dass das längst nicht immer so war: Je länger die Lektüre eines Buches zurückliegt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass auf dem Umschlag ein Männername steht. Kurz gesagt: Je älter ich werde, desto häufiger lese ich Bücher von Autorinnen. 

Damit bin ich nicht alleine. Eine Kollegin, die regelmäßig Literaturkritiken schreibt, sagte kürzlich: „Mir ist aufgefallen, dass ich fast immer nur Bücher von Frauen bespreche.“ Eine Freundin sagte: „Ich habe in letzter Zeit fast nur Bücher von Frauen gelesen. Ich finde die einfach interessanter.“ Ich fragte weitere Kolleginnen und Freundinnen, die gerne lesen, und die alle bestätigten: Ja, das sei bei ihnen genauso. 

Sie alle bestätigen ebenfalls, dass sie vorher hauptsächlich Bücher von Männern gelesen haben. Jahrelang. Ich versuche, mich an den Zeitpunkt zu erinnern, an dem Bücher für mich zu „Literatur“ wurden, an dem mein Lesen analytischer und bewusster wurde. Das muss mit ungefähr 16 der Fall gewesen sein, als die Schule mir diese Art des Lesens näher brachte, als ich Literaturgeschichte und den „Literaturkanon“ kennenlernte. Und in dem waren eben kaum Frauen vertreten. Die Bücher, die mir als Schülerin und dann auch als Studentin der vergleichenden Literaturwissenschaften als „literarisch wertvoll“ präsentiert wurden, waren fast alle von Männern. Was bei den Klassikern noch einigermaßen nachvollziehbar ist (auch, wenn es in jeder Epoche Autorinnen gab!), bei der modernen Literatur aber überhaupt nicht mehr.

Dieser „Kanon“ ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass Bücher von Frauen so lange keine Rolle gespielt haben: Ich durchlebte mein Coming-of-Age mit J.D. Salingers Holden Caulfield. Ich liebte leidenschaftlich mit Goethes Werther. Ich durchlitt die erste große Katastrophe des 21. Jahrhunderts gemeinsam mit Jonathan Safran Foers Oskar Schell. Jahrelang waren neunzig Prozent der literarischen Blicke, die für mich auf die Welt geworfen wurden, die ich lesend nachvollzogen habe, männliche Blicke. Und sogar die Frauen, deren Blick ich einnahm, waren meist von Männern erdacht worden: Theodor Fontane hat sich Effie Briest ausgedacht, Jonathan Franzen hat sich Enid und Denise Lambert ausgedacht. Diese Männer haben aus ihrer männlichen Perspektive die weibliche Perspektive eingenommen. Eine Kollegin hat das in einem Text mal sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Frauen, die lesen, sind gewissermaßen Transsexuelle.“

Auf der Abitur-Leseliste für Hessen stehen 18 Titel - drei davon von Frauen

Seit ich mehr Bücher von Frauen lese, hat sich darum nicht nur die Zusammensetzung meines Bücherregals verändert, sondern auch das Lesen an sich. Ich lese generell wieder mehr, mit mehr Interesse, intensiver. Die Texte sind neu und aufregend. So, als hätte sich das alte, gewohnte Lese-Erlebnis irgendwie abgenutzt. Gleichzeitig sind mir die Texte meist von Anfang an näher, vertrauter. Weil die Frauenfiguren plastischer, natürlicher, logischer sind. Weil die Perspektiven für mich nachvollziehbarer sind. Selbst, wenn sie meinen widersprechen, ist da doch das Gefühl: Als wir damals in die Welt geworfen wurden, die Autorin und ich, sind wir ungefähr vom gleichen Ausgangspunkt gestartet. Oder zumindest von Ausgangspunkten, die sich näher waren, als meiner und der von Jonathan Safran Foer.

Ich würde das gerne an konkreten Beispielen belegen, aber das ist schwierig. Es ist ja nicht so, als ginge es in jedem Buch von einem Mann um Erektionsstörungen (wobei es schon relativ oft darum geht …), die ich nicht haben kann, und in jedem Buch einer Frau um die Angst vor der biologischen Uhr, die ich haben könnte. Aber vielleicht kann ich es so zusammenfassen: Hätte ich mit 16 Emma Clines „The Girls“ gelesen statt „Der Fänger im Roggen“, ich hätte mich sehr viel stärker in der Welt verankert gefühlt. Denn während Holden Caulfield aus der Rolle fällt, versucht Evie Boyd, die Protagonistin in „The Girls“, eine bestimmte Rolle zu spielen. Sie versucht, zu gefallen. Beide Coming-of-Age-Perspektiven sind wichtig – aber Holdens Perspektive, die des männlichen, jungen Outlaws, wurde im Laufe der Literaturgeschichte sehr viel öfter erzählt, als die weibliche von Evie.

Ein Blick auf Leselisten, die online zugänglich sind, zeigt, dass die Lese-Biografie der meisten Schüler und Studenten immer noch genauso abläuft wie meine. Auf der Abitur-Leseliste des Hessischen Kultusministeriums zum Beispiel stehen insgesamt 18 Titel für Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch – und nur drei davon wurden von Frauen geschrieben, die neun deutschsprachigen Autoren sind sogar alle Männer. Auch für die „im Leistungskurs geforderte größere literarische Belesenheit“ werden zusätzlich zwei männliche Autoren empfohlen: Brecht und Süskind. 

Das ist eine Stichprobe. Aber sie zeigt: Es wird nicht besser. Ausnahmen sind Leselisten mit Jugendbüchern, die meist in der Unter- und Mittelstufe gelesen werden, da ist der Frauenanteil höher. Aber sobald es an die „richtige Literatur“ geht (was immer das auch heißen mag), gewinnen die Herren die Überhand. Jeder von uns könnte seine Freunde nach ihren Lektüre-Erinnerungen fragen, aus der Schule oder – wenn sie etwas in Richtung Literatur studiert haben – aus der Uni. Das Ergebnis wäre immer das gleiche: Wer nicht explizit ein Seminar zu „Literatur von Frauen“ besucht hat, hat überwiegend Bücher von Männern gelesen. 

„Frauenliteratur“ gilt als eigenes Genre: Bücher von Frauen für Frauen

Dabei sind Bücher von Frauen ja längst keine Mangelware mehr. Aber „Frauenliteratur“ hat leider einen schlechten Ruf. Allein, dass es diesen Begriff gibt, ist ein Problem. Google spuckt dafür 146.000 Ergebnisse aus – für „Männerliteratur“ nur 5460. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein angebliches Genre: Bücher von Frauen für Frauen, mit pastellfarbenen Covern und schnörkeligen Titelschriftzügen. Bücher über Liebe und Gefühle oder über die Päpstin und die Wanderhure. Diese Bücher gibt es natürlich (und auch sie haben ihre Berechtigung). Aber weil sie leider nicht einfach nur als „Liebesromane“ oder „historische Romane“ gelten, sondern eben als „Frauenromane“, gehen viele davon aus, Bücher von Frauen seien meistens weniger intellektuell als die von Männern. Und dass Bücher von Männern von allen gelesen werden, Bücher von Frauen aber nur von Frauen. Insgesamt sind sie also weniger wert. Und wenn man mal dahin schaut, wo Literatur in einen tatsächlichen, nämlich wirtschaftlichen Wert umgewandelt wird, schlägt sich diese Ansicht auch dort in Zahlen nieder: Seit 1901 haben 99 Männer und 14 Frauen den Nobelpreis für Literatur erhalten. 

Während Männer also leicht in den „Kanon“ aufgenommen werden, weil das ihr natürlicher Platz zu sein scheint, muss sich für die Frauen wohl extra jemand einsetzen. So wie die in der Achtzigerjahren gegründete „Stiftung Frauen-Literatur-Forschung e.V.“: Deren Mitarbeiterinnen haben eine Datenbank mit Werken von Autorinnen erstellt. Als ich die Vorsitzende Marion Schulz anrufe und um ein Statement zum Thema bitte, ist sie zunächst etwas überrascht, dass ich mich melde. Aber dann bestätigt sie meine Beobachtungen: Bücher von Frauen stehen immer noch im Abseits, egal ob auf dem Buchmarkt, in der Schule, an der Uni oder in der Forschung. Und dann teilt sie mir etwas eher Deprimierendes mit: „Wir haben lange versucht, in diesem Bereich etwas zu erreichen“, sagte sie. „Aber da ist nichts zu machen.“ Trotz Publikationen und Vorträgen zu Literatur von Frauen, trotz der Datenbank, trotz des unbedingten Willens, Werke von Frauen (und Frauen selbst!) in der Literaturwissenschaft zu verankern, habe sich in den vergangenen dreißig Jahren nicht viel verändert. Die Wissenschaft sei männlich dominiert, der „Kanon“ ebenfalls. „Wir sind darum gerade dabei, die Stiftung aufzulösen“, sagt Marion Schulz. 

Das Gespräch macht mich traurig. Weil niemand junge Leser und Leserinnen an Bücher von Frauen heranführt, die lesenswert sind. Weil die, die es versuchen, anscheinend irgendwann resignieren und aufgeben. Meinen Freundinnen und mir wurde, wie fast allen Mädchen in der Schule und an der Uni vorgelebt, dass gute Bücher – mit einigen Ausnahmen – von Männern geschrieben werden. Dass genauso viele Frauen gute Bücher schreiben, darauf mussten wir selbst kommen. Wir mussten selbst nach diesen Büchern suchen. Und konnten erst dann feststellen, wie großartig es sein kann, sie zu lesen. Wie befreiend und bereichernd. Ich hoffe sehr, dass wir in dreißig Jahren nicht wie Marion Schulz erkennen müssen, dass die nächste Generation lesender Frauen immer noch mit einem Haufen Männerbücher aufwächst. 

Die Autorinnen, von denen ich seit Januar Bücher gelesen haben, waren übrigens: Imbolo Mbue, Elena Ferrante, Helen Macdonald, Zadie Smith, Jessa Crispin, Emma Donoghue und Liv Strömquist. Bitte gerne in Leselisten aufnehmen.

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