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Warum will jeder meine Toleranz?

flo-flash / photocase.com

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Menschen sind: Extrovertiert, monogam, polygam, feierfaul, introvertiert, feiersüchtig. Sie trinken gerne viel oder gar nichts oder ein bisschen was. Dasselbe gilt für ihr Sexleben, ihr Sozial- und Essverhalten und ihre Anzahl an Beziehungen. Ihr findet daran nicht allzu viel Neues? Ich auch nicht.

Wir, wer auch immer damit gemeint sein mag, diskriminieren aber täglich Durchschnittsmenschen, weil sie sind, wie sie sind: Ein Freund hält beim Bier eine Brandrede, weil „wir“ angeblich seine Langzeitbeziehung für unzeitgemäß befinden, eine andere Bekannte verlangt, dass die Gesellschaft endlich akzeptiert, dass sie im betrunkenen Zustand anstrengend wird. Sie habe nun mal „diese Stimmungsschwankungen“ und wäre „halt einfach so“.

Im Netz stoßen die Diskriminierten dann auf Texte, die sie in ihrem täglichen Kampf um Anerkennung abholen: „Hört auf, andere zum Saufen zu überreden!“ heißt es da zum Beispiel oder „Ich bin Single und anscheinend sollte ich mich deswegen schlecht fühlen. Tu ich aber nicht!“ oder „Ich bin Hausfrau - na und?“ und oder „Ich bin eine Frau und habe Hämorrhoiden. Na und?“ NA UND?

Viele dieser Texte, die übrigens auch auf dieser Seite erscheinen, haben ja eine gewisse Berechtigung und vielleicht wird jemand, der seinen abstinenten Kumpel sonst immer zum Saufen überredet hat, das beim nächsten Mal eben bleiben lassen. Als jemand, der derartige Plädoyers im Alltag und in seiner Timeline fast täglich zu hören und lesen bekommt, würde ich aber mittlerweile gerne mal ein großes „Ihr seid alle hauptsächlich okay, kommt mal wieder runter!“-Plädoyer halten.

 

Was mich stört? Da wäre erstens die inflationäre Menge an Mikro-Forderungen, die sich durch ihre Widersprüchlichkeit oft selbst aufheben: Der gefühlte Unterdrücker scheint immer das Gegenteil des eigenen Lebensentwurfs oder Verhaltens zu sein. Singles fühlen sich von Beziehungsmenschen erniedrigt, Polygame von Monogamen, Fleischfresser von Vegetariern und umgekehrt. Und dieses Gegenteil ist immer auch der angebliche böse Mainstream.

 

Ich bin genervt von zu viel Toleranz-Gerede

 

Außerdem glaube ich nicht, dass jeder Normalo mit ein paar netten Macken sein individuelles Toleranz-Trademark braucht. Ich finde nicht, dass ich meine Bekannte für ihre betrunkenen Ausfälle in den Arm nehmen muss, um ihr zu sagen, wie okay sie ist. Ich bin genervt von zu viel Toleranz-Gerede.

 

Diese Erkenntnis erscheint mir selbst auf den ersten Blick ziemlich unangenehm, kennt man derlei Stimmungen doch eigentlich eher aus der rechten Ecke, wo zeternde Graurücken sich über „Genderwahn“ und „Multi-Kulti-Irrsinn“ aufregen.

 

Nach kurzem Nachdenken komme ich aber doch auf den Unterschied: Ich bin für jedes Gespräch und jeden Text dankbar, in dem mir Zugehörige einer gesellschaftlichen Minderheit erklären, warum und wie sie täglich Diskriminierung durch unsere Gesellschaft erfahren, die eben doch so manche Dinge eher als „normal“ wahrnimmt als andere. Dabei kann es  etwa um Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, psychische Krankheiten oder Behinderungen gehen.

 

In den vergangenen Jahren sind die Stimmen dieser Minderheiten, Gott sei Dank, lauter geworden. Dank ihrer Worte, ihres Aktivismus und auch ihres Selbstbewusstseins habe ich als Durchschnitts-weißer-hetero-Typ verstanden, dass es Intoleranz und Benachteiligung auch dort gibt, wo man sie selbst nicht wahrnimmt.

 

Viele erklären sich zu einer gesellschaftlichen Minderheit, die keine ist

 

Und nun kommen wir wieder auf meine Bekannte und den Langzeitbeziehungsmenschen zurück: Viele verklären sich aufgrund einer Charaktereigenschaft, eines Zustands oder Lasters zu einer gesellschaftlichen Minderheit, die keine ist. Vielleicht weil es en vogue ist, ein ganz außerordentlicher Mensch zu sein. Vielleicht, weil momentan die tatsächlich Diskriminierten eine erhöhte Aufmerksamkeit bekommen.  Vielleicht, weil es manchmal ein komfortabler Weg ist, sich selbst weniger zu hinterfragen, Stichwort Stimmungsschwankungen.

 

Die Eindringlichkeit, den kämpferischen Ton, die Ausrufezeichen und das Anklagen des intoleranten Umfelds haben sie sich von den wirklichen Minderheiten abgeschaut. Diese haben aber tatsächlich schon ihr ganzes Leben lang Hass und Gewalt erfahren, wurden erniedrigt, angespuckt oder verprügelt.

 

Natürlich gibt es Benachteiligung auch im Kleinen, man mag mir für das Vergleichen verschiedener Diskriminierungsformen klassischen "Whataboutism" vorwerfen. In diesen echten Fällen geht es aber eben nicht um einen schiefen Blick vom Kumpel, wenn man mal wieder das dritte Bier ablehnt oder Lust hatte, von seinen Hämorrhoiden zu erzählen. Auch kenne ich keinen Single, der für sein Single-Dasein eine Faust ins Gesicht bekommen hat. Wer seine Normalo-Problemchen mit der Drastik eines Bürgerrechtsaktivisten vorträgt, nimmt echten Vorkämpfern einen Teil ihrer Bühne und Wucht.

 

Falls ihr also das nächste Mal das große Plädoyer für mehr Toleranz gegenüber euren Eigenheiten halten wollt – fragt euch bitte kurz, ob es dafür wirklich die dicke Martin-Luther-King-Wumme braucht. Und wenn ja, ruft mich doch bitte vorher an: Ich sage euch bestimmt, dass ihr im Großen und Ganzen okay seid. 

 

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