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Mit dem Ende des Studiums kommt die Trauer

Illustration: Lucia Götz

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Ich habe ein blaues Deckblatt für die Bindung meiner Bachelorarbeit gewählt. Blau ist eine angenehme Farbe: kühl, ruhig, neutral. In dem Augenblick, als ich das komprimierte Endergebnis von sechs Semestern in Händen hielt, war ich allerdings weit entfernt von all diesen Eigenschaften. Von Gefühlsexplosionen kann ich aber auch nicht berichten. Stattdessen empfand ich: Leere. In Romanen wird dieser Begriff häufig verwendet, wenn den Helden ein schwerer Schicksalsschlag ereilt. Mit der Realität hat das nicht so viel zu tun: Wenn echte Menschen sich leer fühlen, dann fühlen sie nicht nichts. Nur auffällig wenig. In einem Moment, von dem ich gedacht hatte, ich würde vor Freude und Stolz und Erleichterung zusammenbrechen, hat mir dieses nicht vorhandene Fühlen Angst gemacht. 

Wie für viele andere kam der Studienabschluss für mich erstaunlich unerwartet. Klar habe ich geahnt, dass es nicht ewig weitergehen kann und in Hinblick auf Gesundheit und Biorhythmus vielleicht auch nicht weitergehen sollte. Aber genauso gut hätte man mir erzählen können, dass ich einmal in den Ruhestand gehen werde. Na und? Ist ja noch ewig hin. 

Nach der Leere begann das Grübeln. Darüber, dass man doch irgendwie ziemlich viel Spaß hatte während des Studierens. Dass man demnächst wahrscheinlich in einer fremden Stadt leben wird, wo man die Menschen, die man in den letzten Jahren liebgewonnen hat, nicht mehr abends spontan auf einen Wein treffen kann. Wo man irgendetwas Neues anfangen muss, von dem man nicht weiß, ob man ihm gewachsen ist. Oder, schlimmer noch: Dass man eigentlich keine Ahnung hat, wie es weitergeht. Auch wenn keiner darüber spricht: Am Ende des Studiums trauert man.

Wir trauern nicht nur um geliebte Personen, sondern auch um Lebensphasen

Das ist doch ärgerlich. Tausend neue Möglichkeiten breiten sich vor einem aus, sollte man da nicht voll gespannter Erwartung sein, statt – so makaber es klingt –in Trauer zu verfallen als wäre ein Familienmitglied gestorben?

"Wir trauen nicht nur um geliebte Personen, sondern auch um Lebensphasen wie die Studienzeit", sagt Karina Kopp-Breinlinger. Sie ist Leiterin des Münchner Instituts für Trauerpädagogik, wo sie als Trauerbegleiterin arbeitet. "Wie beim Tod eines Menschen müssen wir uns am Ende einer Lebensphase verabschieden. Wir sollten bewusst reflektieren: Was war schön? Was wird anders sein?"

Wie genau man diese Umbruchphase wahrnimmt, ist typabhängig. Manchen dämmert erst langsam, dass sich nun einiges verändern wird. Andere erleben das Ende des Studiums als plötzlichen Einbruch. Kopp-Breinlinger hat durch ihre Arbeit mit Trauernden eine Regel erkannt: "Im Allgemeinen kann man sagen, dass Menschen, die sich mehr freuen können, auch stärker trauern als Menschen, die weniger fähig sind, sich für Dinge zu begeistern."

Die Gefühlsamplitude verläuft also symmetrisch in beide Richtungen. Das ist schon mal eine gute Nachricht für alle, die den Satz "Jetzt freu dich doch mal" regelmäßig zu hören bekommen. Die trauern dann nämlich auch weniger und bleiben dann von der Aufforderung verschont, sich zusammenzureißen.

Wie auch immer sie sich niederschlägt – Trauer am Ende des Studiums ist gesund. "Wer gar nichts empfindet, ist entweder emotional abgestumpft oder er verdrängt." Den Erfolg ordentlich zu begießen ist gut. Dauerhaft durchzufeiern, um das negative Gefühl zu unterdrücken, hingegen keine Lösung. Durch den – bisweilen schmerzhaften – Verarbeitungsprozess muss man wohl durch. Kann man etwas tun, um diese Zeit besser zu überstehen?

"Jemanden zum Reden zu haben, der einen versteht, ist schon einmal ein guter Anfang. Das muss nicht sofort ein Psychologe sein. Da reicht auch ein Freund, der die Sorgen nicht wegtröstet, sondern ernst nimmt", sagt Kopp-Breinlinger. Außerdem könne man sich ein Ritual ausdenken, um den Studienabschluss würdig zu begehen. Der Klassiker: Die Studienunterlagen der am wenigsten geliebten Kurse verbrennen. Am besten inklusive der teuren Leitz-Ordner. Weg mit dem Ballast! Wichtig sei dabei, auch etwas von der vergangenen Lebensphase zu behalten, sagt Kopp-Breinlinger: "Ein allzu harter Schnitt ist vermutlich auch nur eine Art Flucht."

Statt vor potentiell schmerzhaften Gefühlsausbrüchen wegzulaufen, sollte man sich überlegen, was man in den nächsten Lebensabschnitt mitnehmen möchte. Das gilt besonders für die Menschen, die man während des Studiums kennengelernt hat. Um die Traurigkeit über das verflossene Studium zu bewältigen, müssen wir nicht all unsere Lieblingsmenschen aus unserem Leben verbannen. Sich mit ihnen zu treffen wird anders sein. Sie sind dann Teil einer neuen Situation, an die man sich, wie an so vieles, erst gewöhnen muss.

Mit jeder Krise, die man überwindet, ist man besser gerüstet für die nächste

"Trauer ist immer ein Stück weit Sinnkrise", erklärt Kopp-Breinlinger. "Etwas Schönes wie das Studium geht zu Ende und auf einmal ist da nur noch Unsicherheit. Man hat keine Ahnung, was einen nach dem Studium erwartet und ob das genauso gut wird wie der vorige Lebensabschnitt." Trotzdem sei aktives Trauern eine gute Sache: Mit jeder Krise, die man überwinde, sei man besser gerüstet für die nächste. Frei nach dem Motto "Was dich nicht umbringt, macht dich stärker" tritt man ähnlichen Schwierigkeiten in der Zukunft mit größerem Selbstvertrauen entgegen. Das kann bei späteren Umbruchsphasen wie etwa einem Jobwechsel nützlich werden.

Außerdem – und das ist vielleicht der Kern der Sache – man trauert nur um Dinge, die einem kostbar sind. Wer sich nie so richtig auf sein Studium eingelassen hat, wird sich nicht die große Sinnfrage stellen, wenn es vorbei ist. Was so schmerzt, ist schließlich das Lösen der inneren Bindung von einem Lebensentwurf, den man lieb gewonnen hat. Es ist die Sehnsucht nach einer Zeit, die man genossen hat und die nicht zurückkommen wird, so angestrengt man auch all die Orte besucht, die einem während des Studiums wichtig waren.

Vielleicht hilft in diesem Fall ja Rationalität. Wenn man ganz ehrlich zu sich ist – und das gehöre ebenfalls zum Trauern, sagt Kopp-Breinlinger – dann gab es während des Studiums auch Dinge, die einem nicht gefallen haben: "Aus der Bilanz kann man lernen und diese Aspekte im neuen Lebensabschnitt verändern." Ich hatte schon nach wenigen Wochen meine Wohnung satt, die auch geruchlich Schlafzimmer und Küche in einem war. Für meine zukünftigen Wohnstätten bestehe ich also auf Trennwände zwischen funktional verschiedenen Räumen.

Ob es mich versöhnt, dass ich jetzt nicht mehr direkt in meinem Bett stehe, wenn ich die Tür aufschließe, weiß ich noch nicht. Wobei ich mir aber sicher bin: Nach meiner Exmatrikulation bin ich nicht mit sofortiger Wirkung über den Rand der Welt gekippt. Es ging tatsächlich irgendwie weiter. Auf der Unterseite der Scheibe vielleicht, um im Bild zu bleiben. Und wenn man genauer drüber nachdenkt: Welche Seite oben liegt, ist im All dann doch immer eine Frage der Perspektive.

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