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Das Wort des Jahres war früher besser

Foto: Patrick Pleul / dpa

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Früher war alles anders. Ob alles auch besser war – keine Ahnung. Im ersten „früher“, an das ich mich erinnere, turne ich zwar auf einem Spielplatz in nordbadischen Dorf rum und meine größte Sorge ist, ob ich abends genug Flädlesuppe bekomme – aber das mit „heute“ zu vergleichen, wo ich an einem Computer in der bayrischen Großstadt sitze und mir Sorgen um meine Steuererklärung mache, ist einfach Quatsch.

Ich kann mich, will ich damit sagen, zwar gedanklich in mein vierjähriges Ich zurückverwandeln, aber das Vorvorgestern ist vergangen. Abgeschlossen. Passiert nie wieder. Was bleibt, ist die Erinnerung. Mehr nicht.

Gerade hat die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden aber bekannt gegeben, das Wort des Jahres 2016 sei: „postfaktisch“. Zusammen mit dem Gewinner gab es eine Liste der Wörter, die ebenfalls zur Auswahl standen. Und seitdem ich die alle kenne, frage ich mich, ob früher nicht doch alles besser war – oder zumindest vieles.

Denn die Wahlbegründung der Gesellschaft erklärte mir, dass politische und gesellschaftliche Diskussionen sich zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten drehen würden. Das Wort stehe also für einen tiefgreifenden politischen Wandel.

„Postfaktisch“, sagt die Gesellschaft weiter, beschreibe damit die Tatsache, dass immer größere Bevölkerungsschichten aus Widerwillen gegen "die da oben" bereit seien, Tatsachen zu ignorieren und offensichtliche Lügen zu akzeptieren. „Post-truth“, die englische Übersetzung, war neulich schon zum „International Word of the Year“ gekürt worden.

Auf dem deutschen Platz zwei folgt übrigens „Brexit“, dann „Silvesternacht“ auf der drei und so geht es weiter mit negativ behafteten Ausdrücken. Sie lauten: Schmähkritik, Trump-Effekt, Social Bots, schlechtes Blut, Gruselclown, Burkiniverbot und „Oh wie schön ist Panama“ (eine ironische Anspielung auf durch die Panama-Papers aufgedeckte weltweite Steuerhinterziehung).

Puh. Das Jahr 2016 scheint wirklich ein Endgegner gewesen zu sein. Danach brauche ich erstmal eine Flädlesuppe, um so viel Schlimmes zu verdauen.

Wo sind die alten, niedlichen Wörter des Jahres geblieben? 

Und dann gucke ich mir an, was eigentlich die Vorgänger von Postfaktisch waren. In der jüngeren Vergangenheit lauern noch mehr Krisen und Konfliktthemen: Flüchtlinge, Lichtgrenze (ok, da stimmt das Wort „düster“ nicht ganz), GroKo, Rettungsroutine und so weiter. Muss die DGfS jedes Jahr aufs Neue ein Wort aussuchen, das jeden, der der deutschen Sprache mächtig ist, daran erinnert, wie schrecklich diese Sprache sein kann?

Die Kombination all dessen ist so krass, dass man sich schon nach Wörtern zurücksehnt, die alleinstehend für sich erscheinen wie die Wahl zwischen Rosenkohl und Staudensellerie: Wutbürger, Teuro und Abwrackprämie, ihr alten Wörter des Jahres, wo seid ihr geblieben? Ihr klingt ja heute, im verklärten Rückblick, fast niedlich, wenn man euch neben „postfaktisch“ stellt.

Um ein Wort des Jahres zu finden, das mir wirklich gefällt, muss ich allerdings 21 Jahre zurückgehen. 1995 wurde (kein Scherz!) das ganz wunderbare Wörtchen „Multimedia“ ausgezeichnet. Das „Leitwort für die Reise in die ‚schöne neue Medienwelt‘“, so hieß es damals. Keiner hat sich damals vorstellen können, wie das Internet und die Digitalisierung unser aller Leben verändern würden – das unterstelle ich jetzt einfach mal. Aber „Multimedia“, die Bezeichnung für die schöne neue Welt, da schwang Optimismus mit. Ganz prä-faktisch. Vielleicht, denke ich gerade an meinem Münchner Computer sitzend, vielleicht war früher doch ein bisschen was besser.

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