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Freiheit gibt es nur im Dunkeln

Foto: Irina und Victor Yuliev / mojoimages

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Wladislaw – dieser Name ist knapp über dem Hüftknochen des muskulösen Barkeepers eingestochen. Mit der einen Hand garniert er gerade sehr nebenbei einen giftig grünen Drink, mit der anderen reicht er das Wechselgeld über die Theke. Dabei dreht er sich so, dass der verschnörkelte Schriftzug unter seiner bauchfreien Jeansweste nicht zu übersehen ist. Da, wo sonst ein i-Punkt über dem Namen steht, ist ein Herz tätowiert. Sein Gegenüber beeindruckt das wenig. Der zwinkert ihm zu und streicht ihm beim Entgegennehmen der Drinks einen Tick zu lang über den Handrücken. Kurz lächeln die Männer einander an, dann geht der Moment im Flackern des Stroboskoplichts unter.

Der Barkeeper will anonym bleiben. Dass er homosexuell ist, darf draußen niemand wissen.

Eine zärtliche Geste zwischen zwei Männern – eigentlich eine Banalität, eigentlich keine Erwähnung wert. Hier, in St. Petersburg, wo sich die Szene abspielt, ist sie ein Politikum. Hier braucht es Schutz­räume, wenn zwei Männer einander ihre Gefühle zeigen wollen. Das „Blue Oyster“ ist so ein Schutzraum. Zusammen mit dem „Central Station“, nur ein paar Türen weiter, wohl der einzige in der Stadt. Die beiden Clubs liegen direkt an der Ecke zur Dumskaya, der Partymeile St. Petersburgs, wo Neu­reiche in offenen Limousinen rus­sische Poplieder mitkreischen, Frauen in suizi­dalen Highheels sich wackelnd an den Armen ihrer Begleiter festkrallen und Menschen in Tierkostümen versuchen, Menschen ohne Tierkostüme in ihre Restaurants zu locken. Sie alle rauschen am „Blue Oyster“ und am „Central Station“ vorbei, das peinliche Gekreische nimmt ihnen keiner übel. Zwei flirtende Männer, zwei Männer gar, die sich küssen, wären hier aber unvorstellbar.

Dabei wirkt St. Petersburg eigentlich wie ein Ort, an dem Welten zusammenkommen. Die Vinotheken, Falafel-Läden und Rooftop-Bars ziehen Studenten, Backpacker und Pauschaltouristen an. Für Hochzeitspaare ist die Stadt mit ihren romantischen Brückchen und Kanälen eine beliebte Fotoshooting-Kulisse. Aber eben nur, wenn sie heterosexuell sind. Gleich­geschlechtliche Paare fehlen im Stadtbild komplett. Keine Frauen, die mit Frauen Händchen halten. Keine Männer, die mit anderen Männern Arm in Arm herum­laufen. Auf den Werbeplakaten nur Mutter-Vater-Kind-Szenen – und selbst vor dem „Blue Oyster“ und dem „Central Station“ hängen keine Regenbogenflaggen.

Man will nach außen nicht zu sehr auf­fallen. Drinnen ist schon auffällig genug. Das „Blue Oyster“ ist ein Club für Männer, die Männer kennenlernen wollen. Die eine ungezwungene Affäre suchen. Oder einfach nur ganz selbstverständlich ihren Freund küssen wollen. Ohne Angst.

„Unsere Gäste brauchen einen Ort, an dem sie sie selbst sein können. Weil das da draußen nicht geht“, sagt einer der Barkeeper. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Er hat noch einen anderen Job. Die Kollegen da sollen nicht wissen, dass er am Wochenende hier arbeitet. Da draußen, in der sonst so kosmopolitisch wirkenden Metropole, werden Tag- und Nachtleben streng getrennt. Und Homosexualität verbannt. Wer nicht heterosexuell ist, darf in der Öffentlichkeit nicht mitmischen.

blue oyster entrance

Unscheinbares Refugium: Das "Blue Oyster" liegt direkt neben der St. Petersburger Partymeile. Der Club ist ein Schutzraum für alle, die sonst nirgends so feiern können, wie sie wollen.

Foto: Irina und Victor Yuliev / mojoimages

St. Petersburg rühmt sich da seiner un­seligen Vorreiterrolle. Noch bevor das Gesetz gegen sogenannte „non-traditionelle Propaganda“ im Juli 2013 russlandweit in Kraft trat, erließ die Stadt wie viele andere Regionen Russlands bereits im März 2012 eine Verordnung gegen „Pädophilie und homosexuelle Propaganda“. Seitdem sind Handlungen, die Homosexualität in irgendeiner Form öffentlich sichtbar machen, verboten.

Bis zu 500 Euro Strafe kann das Tragen einer Regenbogenflagge seitdem bringen. Wer demonstriert, muss damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen. In der begleitenden Medienkampagne wurden Homosexualität und Pädophilie gleich­gesetzt. Die Abgeordneten in der russischen Staatsduma winkten das Gesetz Anfang 2013 schließlich mit mehr als 80 Prozent der Stimmen durch. Die Verschärfung sorgte weltweit für Proteste der LGBTI-Gemeinden. In St. Petersburg blieb es ruhig. Die Entscheidung wurde in den Silvesterferien getroffen. Eine Zeit, in der auch Aktivisten Urlaub machen.

Breitbeinig sitzt Natascha K. vor ihrem Laptop. Hinter ihr Bilder von nackten Oberkörpern, die sowohl männlich als auch weiblich sein könnten. Explizite Fotos von Geschlechtsteilen. Und von Männerhänden, die nach Männerhintern greifen. In der Puschkinskaya 10, einem ehemals besetzen Haus, kann die Aktivistin solche Bilder ausstellen. Noch so ein Zufluchtsort für alle, die mit ihrer Kunst, ihren Ansichten oder ihrem Aussehen nicht in das Bild der Stadt passen. Trotzdem senkt Natascha die Stimme, wenn sie von diesem Winter 2013 spricht. „Die neuen Gesetze waren ein Schock. Wir hatten keine Chance zu demonstrieren. Der Zeitpunkt war absichtlich so gewählt, um Widerstände zu vermeiden“, glaubt sie.

Die dazugehörige mediale Hetzkampagne wurde in großen Teilen von Witali Milonow mitfinanziert, einem Abgeordneten des St. Petersburger Stadtparlaments. „Kreml, Medien und lokale Politik haben gleichermaßen den Hass gegen uns geschürt“, sagt Natascha. Milonow, der Mann, der unter anderem ein Einreiseverbot für Lady Gaga und Madonna fordert und eine eigene „Moralpolizei“ in St. Petersburg aufbauen will, wurde für die konsequente Durchsetzung seiner homophoben Gesetzesentwürfe im vergangenen Jahr von Putin der „Verdienstorden für das Vaterland“ verliehen.

Natascha und ihre Freundin Mascha haben sich gegen die Unsichtbarkeit entschieden. In den rechten Knöchel beider Frauen ist ein rotes Band gestochen. Seit vier Jahren sind sie ein Paar. Seitdem führen sie ein Leben in permanenter Habachtstellung. „Ich schaue immer, wer hinter uns läuft, bevor wir uns küssen“, sagt Mascha. „Dass wir auf der Straße nicht mal Händchen halten dürfen, ist eine Seite der institutionellen Diskriminierung. Vor allem aber will man uns als Aktivistinnen mundtot machen. Wir sollen verstummen, unsichtbar werden“, sagt sie.

natasha masha

Natascha (links) und Mascha bleiben in Russland, um zu kämpfen. Die LGBTI-Aktivistinnen wollen sich von der feindseligen Stimmung im Land nicht unterkriegen lassen.

Foto: Irina und Victor Yuliev / mojoimages

Das Gesetz richtet sich nicht gegen Homosexualität per se, aber gegen deren Sichtbarkeit. Im Stadtbild und in den Köpfen der Menschen kommt das aufs Gleiche raus: Die Lebenswelten von LGBTI bleiben streng getrennt vom Rest der Öffentlichkeit, und in den Köpfen bleibt eine Heterosexualität „normal“, die keine Alternativen zulässt. Weil man keine Alternativen sieht.  

Das „Blue Oyster“ ist eine Ausnahme. Mascha glaubt, dass die Polizei sich mit dem Club in irgendeiner Form arrangiert hat. Schließlich kämen auch viele Touristen dorthin, und die sollen sich wohlfühlen. Um Mitternacht ist deshalb kaum noch Platz auf der Tanzfläche. Ein David-Guetta-Song ballert aus den Lautsprechern. Auf der Bühne: eine Karaoke-Einlage von zwei Dragqueens mit Highheels, grellem Make-up und schrillen Stimmen. Sie treffen nur jede zweite Zeile, das Publikum applaudiert trotzdem durchgängig. Der Barkeeper knutscht mit einem Mann auf der anderen Seite der Theke. Die Musik wird etwas ruhiger, jetzt küssen sich auch viele andere Paare, machen Selfies, ziehen ihre T-Shirts aus. Die Luft ist stickig und schwer von Männerparfüm. Dann ein weiterer David-Guetta-Song, Stroboskop, Nebel. Zwischen­durch setzt der DJ aus, um die Menge den Refrain brüllen zu lassen: „I am Titanium!“ Ein Panzer aus Titan gegen die Außen­welt also. Kugelsicher. Wahrscheinlich gilt das hier drinnen tatsächlich. Hier, wo man unter sich ist. Sich abschirmt. Abschirmen muss.

Man muss reich sein, um sich Homosexualität leisten zu können. Geld schützt vor Razzien.

Für schwule Männer sind wenigstens das „Blue Oyster“ und das „Central Station“ ein Refugium. Für lesbische Frauen gibt es solche Orte in St. Petersburg gar nicht. Am Stadtrand war mal diese Truckerinnenbar. Die existiert jetzt auch nicht mehr. „Ansonsten musst du reich sein, um dir Homosexualität leisten zu können“, sagt Natascha. Neureiche lesbische Frauen veranstalten manchmal exklusive Partys. Da kommt man allerdings nur auf Einladung und mit dem nötigen Freundeskreis rein. Geld schützt vor Razzien. Öffentliche Veranstaltungen wie das „Side by Side“-Filmfestival werden jedes Jahr aufs Neue verboten, die Organisatoren erhalten Bombendrohungen und müssen ihre Filme an geheimen Orten zeigen. Obwohl dort mit Festnahmen zu rechnen ist, gehen Mascha und Natascha jedes Jahr wieder hin. „Die Illegalisierung sorgt nur für mehr Zusammenhalt innerhalb der Community. Je mehr sie uns unterdrücken, desto stärker werden wir als Gruppe und entwickeln diese Jetzt-erst-recht-Mentalität“, glaubt Natascha. Ihre Stimme ist jetzt lauter als zu Beginn des Treffens.

 

Schon als Jugendliche musste Natascha stärker sein. Wo sie aufwuchs, in einer kleinen Stadt an der Wolga, musste sie sich ihre Vorbilder im Kopf konstruieren. In der Schule kein Sexualunterricht, im Fern­sehen nur heterosexuelles Familienglück. Mit 13 verliebt sie sich zum ersten Mal in ein Mädchen und will von diesem Moment an nur noch weg. Irgendwohin, wo sie niemand kennt. Wo sie sich nicht verstecken muss. Wo Menschen so sind wie sie. Die kommenden Jahre beschreibt sie als „hardcore“: „Ich kannte niemanden, der nicht heterosexuell war. Oder das zumindest von sich behauptete. Ich war mit meinen Gefühlen komplett allein. Ich hatte kein Internet – woher sollte ich wissen, dass es auch Transgender-Identitäten und noch so viel mehr gibt?“

 

Sie glaubt, dass viele junge Menschen, besonders auf dem Land, Ähnliches durchmachen. Und dass die wenigsten so mutig sind wie sie damals: Mit 16 zieht sie nach St. Petersburg. Zusammen mit ihrer ersten großen Liebe, ihrer Lehrerin. Die Beziehung hält nicht. Natascha bleibt. 

 

Und sie bleibt sichtbar. Sie hat keine Lust mehr, sich zu verstecken. Und genug Energie, um zu kämpfen. Sie bewegt sich breitbeinig, trägt Tank-Top und Baggy-Shorts, den Hinterkopf rasiert. Beim Zigarettenkaufen wird sie regelmäßig nach ihrem Ausweis gefragt, weil die Verkäufer eine konkrete Zuordnung brauchen. „Bist du ein Mann oder eine Frau?“, wird sie ständig gefragt. In solchen Situationen sucht sie die Provokation: „Ich liebe diesen kleinen Schockmoment. In diesen Momenten sitze ich am längeren Hebel, weil ich selbst die Situation ausgelöst habe, und genieße es, die Vorstellungen dieser Leute auf den Kopf zu stellen.“

 

Genauso häufig gibt es aber auch Situationen, die sie sich nicht aussucht. Einmal wird sie auf offener Straße körperlich angegriffen und bedrängt, seitdem trainiert sie verschiedene Kampfsport­arten. „Jeder Tag ist Widerstand. Die Art, wie ich rede, wie ich mich kleide, wie ich gehe. Das macht die Menschen aggressiv.“

central station club 1

Im "Central Station", einem der zwei Schwulen-Clubs von St. Petersburg, füllt sich langsam die Tanzfläche.

Foto: Irina und Victor Yuliev / mojoimages

„Wir“ und „die“ sind Begriffe, die sich in einer Welt, in der sich nichts mischt, in der alles getrennt bleibt, mit immenser Bedeutung aufladen. Gesellschaftlicher. Und politischer. Falls sich das trennen lässt. Letztens wurde ihr im Vorbeigehen hinterhergerufen: „Geh zurück in dein schwules Europa!“ Tatsächlich sind Mascha und Natascha mit europäischen Aktivistinnen gut vernetzt. Auswandern ist trotzdem keine Option für die beiden, obwohl sie es sich leisten könnten. „Das ist doch genau, was die Regierung will. Ich bleibe hier, um zu kämpfen“, sagt Natascha und boxt Mascha dabei ein bisschen zu fest auf den Oberschenkel.  

 

Europa als Sündenpfuhl. Als Quelle der vermeintlichen Verrohung und Ent­moralisierung. Auch hier: wir und die. In Maschas und Nataschas Augen eine Rhetorik, die an die Grundängste der Durchschnittsbevölkerung anknüpft. „Die russische Gesellschaft ist auf Angst gebaut.“

75 Prozent der Russen glauben, Homosexualität sei eine Krankheit oder Ergebnis schlechter Erziehung.

Und auf Unwissenheit. „Niemand redet über die Gräueltaten der Sowjetzeit, in der Schwule und Lesben verfolgt, ‚zwangsgeheilt‘ und umgebracht wurden“, sagt Mascha. Noch immer glauben laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts von 2013 knapp 75 Prozent der russischen Bevölkerung, dass Homosexualität das Ergebnis schlechter Erziehung oder eine Krankheit sei, die behandelt werden müsse. „Diese Grundhaltung bekommen Kinder schon in der Schule vermittelt“, meint Mascha, „und die Medien warnen vor pädophilen Übergriffen und inszenieren gewaltvolle Angriffe auf Schwule und Lesben als Maßnahmen des Jugendschutzes.“

 

Mehr als 220 000 Menschen ver­folgten bis Ende vergangenen Jahres die Videos der Seite „Occupy Pedophilia“ auf vk.com, dem russischen Facebook. Dort wurden Übergriffe auf Homosexuelle als aufregende Jagderfahrung beworben, als Kampf für die Moral. Seit dem Erlass des Gesetzes gegen „non-traditionelle Propaganda“ lockte die Gruppe um den Rechtsradikalen Maxim Marzinkewitsch vorwiegend junge Männer über die Dating-App Grindr in verlassene Wohnungen, wo sie verprügelt, sexuell missbraucht und im Anschluss erpresst wurden.

 

Obwohl Aktivisten immer wieder auf die Seite aufmerksam machten, wurde die Gruppe erst kürzlich verboten. Nachdem ein erzwungenes Outing-Video des Offiziers Andrej Kaminow auf der Seite auftauchte. Marzinkewitsch, Spitzname „Hackebeil“ und prominent durch die Leitung der rechtsradikalen Gruppe „Format 18“, wurde schließlich zu drei Jahren Haft verurteilt. Allerdings nicht wegen der Organisation der Gewalttaten, sondern wegen Verleumdung Moskauer Abgeordneter auf seinem Video-Blog.  

 

Die düstere Realität dieser Gefahr scheint im „Blue Oyster“ an diesem Abend ausgeblendet. Wer heute hier ist, muss nicht auf Dating-Apps zurückgreifen. An einer Eisenstange seitlich der Tanzfläche präsentieren bessere und schlechtere Akrobaten zu Jennifer Lopez ihr Können. „Schwulenclubs sind überall gleich“, sagt ein deutscher Tourist. Zuerst konnte er die ausgelassene Stimmung nicht wirklich genießen: „Ich hatte die ganze Zeit im Hinterkopf, dass das hier eine kleine Utopie ist, ein Zufluchtsort vor der Realität.“ Dann fügt er leicht frustriert hinzu: „So anders fühle ich mich in Deutschland aber ehrlich gesagt auch nicht. Man braucht kein Gesetz, um dumme Sprüche und Blicke zu provozieren.“

Auch in Deutschland passiere da in den Köpfen noch viel zu wenig, sagt er dann noch. Und das würde sich erst ändern, wenn alle Menschen Zärtlichkeiten in der Fußgängerzone austauschen können, ohne Blicke und dumme Kommentare zu ernten. Egal, wer sich da mit wem mischt.

 

Die Musik wird langsamer. Ein Paar verlässt Arm in Arm den Club. „Putin – My Ass“ steht auf dem T-Shirt des einen, der andere trägt einen Blumenkranz. Bevor die beiden draußen auf die Dumskaya treten, wird der eine den Blumenschmuck ausziehen und der andere seinen Mantel vor dem T-Shirt zuknöpfen. Vielleicht werden sie sich noch einmal küssen, bevor sie durch den schweren Samtvorhang auf die grelle Straße treten. Vielleicht werden sie Händchen halten, solange die Stadt noch leer ist.

 

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