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Schüler und Studenten streiken für gerechtere Bildung

Foto: Philipp Külker

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Wer am Freitag in Hamburg zu einer Demo geht, der tut das mit den Bildern der Eskalation vom Vorabend im Kopf. So auch Hava, die am Freitagmorgen zum „Bildungsstreik“ gekommen ist, der sich gegen halb elf Uhr am Deichtorplatz formiert. Das Bündnis „Jugend gegen G20“, dem verschiedenste Organisationen aus ganz Deutschland angehören, von der DGB-Jugend bis zur Jugendantifa, hat dazu aufgerufen. „Ich war gestern bei ‚Welcome to Hell’ am Fischmarkt dabei“, erzählt Hava, die sowohl für den Einsatz der Polizei als auch für die anschließende Gewalt der Autonomen kein Verständnis hat. „Ich stand weiter weg von den Vermummten und mir kam es friedlich vor. Bis dann auf einmal massenweise Polizei auf uns zugelaufen kamen und Panik ausbrach. Alle sind losgerannt, einige sind gestolpert und hingefallen.“

Hava, 26, und ihre Freundin Jördis, 27, sagen, dass sie friedlich demonstrieren wollten – aber es dazu gestern einfach keine Chance gab. Heute also ein neuer Versuch, beim Bildungsstreik, für den die beiden angehenden Lehrerinnen wie auch viele andere Studierende und Schüler ihrem Unterricht fernbleiben, um gegen die Neoliberalisierung der Bildung und für Chancengleichheit zu demonstrieren. „Ich denke, bei dieser Demo bleibt es ruhig“, sagt Hava. „Die anderen Gruppen, die in der Stadt sind, wissen ja, dass hier Jugendliche mitlaufen.“ 

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Hava (l.) und Jördis

Foto: Philipp Külker

Die meisten Teilnehmer sind zwischen 16 und 25, aber es sind auch Zehnjährige und ihre Eltern dabei. Vom Lautsprecherwagen aus, um den sich die Demonstranten versammeln, gibt es schon mal vorsorglich deeskalierende Durchsagen: „An die Polizei gerichtet: Von uns geht keine Eskalation aus. Bitte verhaltet euch entsprechend.“ Das Polizeiaufgebot ist, wie gerade überall in Hamburg, sehr groß. Mindestens zwei Dutzend Einsatzwagen sperren die Straßen ab. Eine Reihe Beamte mit Helmen und Schlagstöcken steht der Demospitze gegenüber, an der Teilnehmer gemeinsam einen Banner halten: „Another world is possible“.

Die Stimmung ist gut. Es läuft Musik, M.I.A. und Black Eyed Peas, einige Teilnehmer haben sich bunte „Jugend gegen G20“-Luftballons an die Rucksäcke geknotet, viele haben violette Regenschirme aufgespannt. Sie sind eine Art Erkennungszeichen des Bündnisses, schon bei der „Lieber tanz ich als G20“-Demo am Mittwochabend hatten sie sie dabei.

Marvin Rupp, 27, ist einer der Pressesprecher von „Jugend gegen G20“. Er steht mit einem Headset im Ohr am Rande der Menge und wirkt müde. Die letzten Tage waren schon sehr anstrengend, dabei startet der eigentliche Gipfel ja erst heute und es stehen weitere Demos an. „Die Situation gestern hat sicher einige eingeschüchtert, die jetzt nicht kommen“, sagte er. „Man hat hier ja auch echt den Eindruck, man wäre im Kriegsgebiet!“ Er deutet nach oben, wo gerade wieder ein Helikopter kreist. Die Teilnehmerzahl wächst trotzdem stetig: Vom Hauptbahnhof her sieht man immer wieder Menschen den Steintorwall entlang Richtung Demo strömen. Jede neue Gruppe wird vom Lautsprecherwagen willkommen geheißen und bejubelt. Schließlich warten etwa 1000 Demonstranten darauf, dass es endlich losgeht. 

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Marvin Rupp vom Bündnis "Jugend gegen G20" freut sich, dass trotz der angespannten Lage in der Stadt so viele Menschen gekommen sind.

Foto: Philipp Külker
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Auch beim Bildungsstreik riegelt ein großes Polizeiaufgebot die Umgebung ab. Die Demonstranten kündigen an, dass von ihnen keine Eskalation ausgehen werde.

Foto: Philipp Külker
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Demo-Teilnehmer schreiben sich die Nummer des Ermittlungsausschusses auf Arme und Beine. Falls sie verhaftet werden, können sie dort anrufen und um Rechtshilfe bitten.

Foto: Philipp Külker
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Die Demo zieht vom Deichtorplatz an der Elphilharmonie vorbei bis zum Millerntor. Im Laufe der Zeit schließen sich immer mehr Menschen an. Am Ende sind es etwa 1500 Demonstranten.

Foto: Philipp Külker
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Vor dem Start der Demo gibt es zum Auflockern ein Spiel: auf Kommando wird gesprungen oder der Polizei gewunken.

Foto: Philipp Külker
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Foto: Philipp Külker
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Noah ist mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder zur Demo gekommen.

Foto: Philipp Külker
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Foto: Philipp Külker
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Foto: Philipp Külker

Aber der Start verzögert sich. „300 Freundinnen und Freunde“ würden derzeit von der Polizei aufgehalten werden, sagt eine Organisatorin durch. Die Umstehenden reagieren mit empörten Buh-Rufen. Dann sagt sie die Nummer des Ermittlungsausschusses durch, die sich bitte alle merken sollen. Eine Gruppe Schülerinnen aus Gießen schreibt sie sich mit Edding auf Arme und Unterschenkel – falls sie verhaftet werden, können sie dort anrufen und um Rechtshilfe bitten. 

Der Bildungsstreik ist eine der wenigen G20-Demos mit einem spezifischen Thema – wenn auch eines, das man nicht sofort mit einem Treffen in Verbindung bringt, bei dem es urspünglich vor allem um Wirtschafts- und Handelsfragen gehen sollte. Bei dem mittlerweile zwar auch Themen wie der Klimawandel und die Terrorbekämpfung besprochen werden, aber um Bildung geht es bei den Gesprächen nicht. „Ich weiß, dass man sich erstmal fragt, was ein Bildungsstreik mit G20 zu tun hat“, sagt Marvin Rupp. „Aber das globale Wirtschaftssystem heizt die Konkurrenz an und der Neoliberalismus reicht bis in die Bildung hinein.“ Darum protestieren  sie hier gegen immer frühere Einschulung, gegen den Leistungsdruck an Schule und Uni und für Chancengleichheit in der Bildung.

In Eyüls Schule war der Leistungsdruck sehr hoch. "Mir geht es so viel besser, seit ich da nicht mehr dahin muss", sagt sie

Auch Parija, 26, Eylül, 19, und Höbke, ebenfalls 19 Jahre alt, sind dafür gemeinsam hergekommen. Parija hält ein Schild, auf dem „Nicht lang schnacken, auf G20 kacken“ steht. „Das ist meine erste Demo“, sagt sie. „Aber ich finde es einfach unmöglich, dass der Gipfel ausgerechnet hier in der Stadt stattfinden muss. Darum mache ich diesmal mit.“ Zum Bildungsthema kann sie auch etwas sagen: Parija ist blind und hat einen Förderschulabschluss gemacht. „Damit kommt man nicht auf den regulären Arbeitsmarkt und das finde ich falsch“, sagt sie.

Eylül hat vergangenes Jahr Abi gemacht – und erst danach ist ihr bewusst geworden, wie hoch der Leistungsdruck an der Schule war: „Mir geht es so viel besser, seit ich nicht mehr dahin muss“, sagt sie. Höbke stimmt ihr zu – und erzählt, dass sie sich während der Schulzeit regelmäßig ehrenamtlich engagiert hat. „Weil ich noch was anderes gemacht habe außer lernen, hatte ich am Ende einen Notendurchschnitt von 2,6.“ Damit findet sie derzeit keinen Studienplatz in ihrem Wunschfach Soziale Arbeit. „Ich könnte mich einklagen. Aber das Geld dafür habe ich nicht.“

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Eylül, Höbke und Parija (v.l.)

Foto: Philipp Külker

Endlich treffen die 300 Teilnehmer ein, die von der Polizei aufgehalten wurden. Es kann losgehen. Zum Start knallt es ein mal laut – kein Böller, sondern der Lautsprecherwagen hat eine Konfettikanone abgeschossen. Goldene Papierstreifen segeln auf die Demonstranten. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsre Bildung klaut“, skandieren sie und ziehen über die Oberbaumbrücke in Richtung Elbphilharmonie. „Abends werden hier die G20 chillen. Unsere Chillung ist cooler!“, twittert der „Jugend gegen G20“-Account dazu. 

Im Laufe der Route schließen sich immer mehr Menschen dem Zug an. Um zehn nach zwei treffen schließlich etwa 1500 Teilnehmer am Millerntor ein, wo die Endkundgebung stattfindet. Bei all den Zusammenstößen von Polizei und Aktivisten in der Stadt, dem ständigen Lärm durch Hubschrauberrotoren und Sirenen und den brennenden Autos in St. Pauli ist es schön, zu sehen, dass in Hamburg auch noch friedlich demonstriert wird. Oder, wie es der zehnjährige Menelik stolz ausdrückt: „Hier kann ich schon mal lernen, wie Demokratie funktioniert!"

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