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„Das sind die letzten Menschen, mit denen man etwas zu tun haben möchte“

Das ist Gene. Er kuschelt mit seinem Hund namens Killer.
Foto: Sofia Valiente

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Drei Monate hat die Fotografin Sofia Valiente in einem Dorf am Rand der US-Kleinstadt Pahokee verbracht, in dem nur verurteilte Sexualstraftäter leben – also „Sex Offender“. Wie sie diese Menschen und ihre Geschichten erlebt hat, zeigt sie in ihrem Foto-Projekt „Miracle Village“, das zurzeit im Rahmen des Fotodoks-Festivals in München zu sehen ist. Wir haben mit Sofia über das Dorf und die Menschen dort gesprochen. 

jetzt: Sofia, von allen möglichen Fotomotiven – warum ausgerechnet ein Dorf, in dem nur Sexualstraftäter wohnen?

Sofia Valiente: Mein Partner hatte mir von diesem Dorf in Pahokee erzählt. Von da an war ich unglaublich neugierig und wollte es selbst sehen. Wenn man in Amerika aufwächst, ist das Label „sex offender“ so ziemlich das Schlimmste, was dir passieren kann. Das sind die letzten Menschen, mit denen man etwas zu tun haben möchte. Ich wollte wissen, wer diese Leute wirklich sind.

Warum leben sie in diesem Dorf zusammen?

Nach ihrer Gefängnisstrafe können viele von ihnen keinen Platz zum Wohnen finden, weil die Restriktionen und Bewährungsauflagen sehr streng sind. In Florida müssen sie circa 300 Meter Abstand von jedem Schulbus, Spielplatz und anderen Orten halten, an denen Kinder sich aufhalten. Viele glauben, dass Sex Offender ausschließlich Pädophile sind. Aber die Verbrechen beschränken sich ja nicht nur auf Kinder.

Also stellt ihnen die Regierung isolierte Dörfer zur Verfügung?

Das Dorf hat nichts mit der Regierung zu tun. Kannst du dir einen Politiker vorstellen, der so etwas unterstützt? Sexualstraftäter rehabilitieren würde zu viele Wählerstimmen kosten. Gegründet wurde das Dorf von einer christlichen Organisation. Es ist aber nicht nur eine Art Zuhause für die Menschen, sondern auch ein Ort, an dem sie nicht ständig von anderen verurteilt oder attackiert werden. Dort machen sie auch Gruppentherapien, die für die meisten Teil ihrer Bewährungsauflagen sind. Die ganze Gemeinschaft setzt viel daran, dass die Menschen im Dorf für ihre Taten Verantwortung übernehmen. Alle dort bereuen, was sie getan haben. Das macht es natürlich nicht weniger schlimm.

Wie hat sich das Bild in deinem Kopf von den „Sex Offenders“ unterschieden, die du tatsächlich getroffen hast?

Ich habe erkannt, dass sie auch Menschen sind, wie wir alle. Das wollte ich mit meinen Fotografien erzählen. Eines der ersten Bilder war ein Klischee-Bild: Einer der älteren Männer im Dorf mit großer Brille, der einen Lolly in der Hand hält. Es gibt dieses Stereotyp des Sexualstraftäters, der im Busch versteckt sitzt und darauf wartet, ein Kind zu schnappen. Aber das ist nicht die Realität! Ich kämpfe mit meinen Fotos stark gegen diesen „Sex-Offender“-Stempel an.

Was genau stört dich daran?

Das Problem ist, dass alle über einen Kamm geschoren werden. Sogar jemand, der nur in der Öffentlichkeit uriniert hat, gilt als „Sex Offender“ – wie auch ein junger Mann in diesem Dorf. Die Bezeichnung „Sex Offender“ vereint also alles, von solchen leichten Vergehen bis hin zu richtig schweren Straftaten. Dieses Label geht nie wieder weg, weil man als „Sex Offender“ registriert wird. Jeder kann das online einsehen: Es gibt ein Register, das die Namen dieser Leute und ihre Verbrechen auflistet. Zum Beispiel Doug: Wenn du online nach ihm suchst, steht in der Liste so etwas wie „unanständiger und lüsterner Akt mit einer Minderjährigen“. Das klingt furchtbar. 

 

Was hat er wirklich getan?

Er reiste jahrelang mit dem Zirkus herum. Als er 20 war, kam er kurz zurück nach Hause und lernte ein Mädchen namens Jade in einer Bar kennen. Sie hatte ein Armband um, das in den USA kennzeichnet, dass sie über 21 ist und trinken darf. Die beiden haben miteinander geschlafen. Daraufhin wurde Doug verhaftet, weil Jade schließlich doch erst 16 war.

 

Leben in dem Dorf auch Menschen, die wissentlich eine schwere Sexualstraftat begangen haben?

Der schwerste Fall im Dorf ist Paul: Er hat seine Enkel körperlich belästigt. Auf ihn trifft der Begriff „Sex Offender“ ebenfalls definitiv zu. Ich habe all diese Geschichten in mein Projekt hinein genommen: um das breite Spektrum der Fälle zu verdeutlichen, das hinter diesem Begriff steckt. Es geht mir auch nicht darum, solche Taten zu verharmlosen. Ich wollte mit meinem Projekt die Hintergründe und die Menschen dahinter zeigen, und sie ihre Geschichte selbst erzählen lassen. Im Internet stehen nur ihre Verbrechen aufgelistet.

 

Hattest du am Anfang Angst davor, ins Miracle Village zu gehen?

Natürlich! Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. Aber besonders die Gespräche mit den Jüngeren haben mir geholfen, mich in diese Menschen hineinzufühlen.

 

Ist es möglich, mit Sexualstraftätern wie Paul Mitgefühl zu haben?

Auf jeden Fall. Immerhin sind sie trotzdem Menschen. Warum sollte man nicht mit ihnen fühlen können? Das bedeutet, dass man versucht, ihre Situation zu verstehen. Und das ist der ganze Punkt.

 

Wie haben die Menschen im Dorf auf dich und dein Projekt reagiert?

Die hatten damit überhaupt kein Problem, waren sogar total offen. Dort weiß jeder das Schlimmste von den anderen. Berührungsängste gibt es nicht. Die Geschichten zu hören war eher so, als würde man eine kaputte Platte anhören. Sie erzählen sie immer wieder, weil ihre Verbrechen etwas sind, das ihr Leben stark bestimmt.

 

Hältst du es für eine gute Lösung, die Sexualstraftäter nach ihrer Gefängnisstrafe in einem Dorf zu isolieren?

Nein, es ist nie eine gute Idee, eine Gruppe von Menschen zu isolieren. Ich denke, was wirklich helfen würde, wären Unterscheidungen zwischen Menschen, die wirklich eine Sexualstraftat verübt haben und jenen, die eigentlich keine begangen haben.

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