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Das Himmelkron-Syndrom

Foto: Quentin Lichtblau

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Wenn man im Fernbus zwischen Berlin und München gerade seinen Mantel stabil zwischen Kopf und Fenster geklemmt, der Sitznachbar das Telefonat beendet und sich also trotz der Geruchsmischung aus Feiertouristen-Ausnüchterung und Socken mit hohem Pollyesteranteil eine gewisse Regentropfenrennen-Reiseromantik eingestellt hat, kommt sie: die Ausfahrt Himmelkron Ost. Und mit ihr die überflüssigsten 20 Minuten des Wochenendes.

Himmelkron liegt auf halber Strecke direkt neben der Nord-Süd-Achse A9. Im Ort gibt es ein ehemaliges Kloster und eine historische Lindenallee, die einmal im Jahr von einer Gruppe Himmelkroner penibel zurechtgestutzt wird. Außerdem eine schneeweiße Autobahnkirche, die aussieht wie eine Skisprungschanze in den Himmel und deswegen für die „Vereinigung von Moderne und Vergangenheit“ herhalten muss, die sich wohl jede deutsche Kleinstadt auf die Fahnen schreibt.

Der Grund, warum Himmelkron so vielen jungen Städtereisenden ein Begriff ist, ist aber ein anderer: Seit dem Aufkommen des Fernbusgeschäfts halten hier pro Tag 21 grüne Busse aus Berlin, München, Zürich oder Leipzig. Hier, auf der Hälfte der Strecke zwischen München und Berlin, machen sie alle ihre Tank-Pause mit Fahrerwechsel und spucken die Tausenden jungen Menschen aus, die sich von den niedrigen Preisen in die Busse haben locken lassen.

Die Besucherzahlen in Himmelkron müssten also regelrecht explodiert sein, bei 78 Plätzen pro Doppeldeckerbus wären es zusätzlich 1638 pro Tag, im Jahr wohl an die 60.000. Die meisten Gäste sind aber nicht freiwillig hier und außerdem heilfroh, wenn sie der Bus nach der Pause wieder in seine zweistöckige Tristesse aus geschmacklosen Sitzbezügen aufnimmt. Himmelkron sind für sie nur die paar Quadratmeter neben der Autobahn. Die 20 Minuten, um die sie nie gebeten haben.

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Foto: Quentin Lichtblau

Aber zurück zum Beginn, zur unterbrochenen Regentropfenromantik. „Punkt Dreiznfuffzch jeht et weiter. Wer det verpasst, kann hier sich hier mal zwei Stunden janz genau die Raststätte angucken und denn hoffen, dass der Kolleje in zwei Stunden noch nen Plätzchen frei hat“, krächzt es aus dem immer zu laut eingestellten Bordlautsprecher bei der Einfahrt in die Raststätte. Dann noch der Hinweis, dass alle Fahrgäste den Bus verlassen müssen. Offizielle Begründung: Beim Betanken des Busses könnte selbiger explodieren, die eingesperrten Reisenden verbrennen.

Als Fahrgast vermutet man beim ersten Anblick des fränkischen Gewerbe-Nirgendwo aber eher ein sadistisches Kalkül der Fernbusplaner: als ob sie ihre Fahrgäste zielsicher in eine kollektive Depression versetzen wollten. Wer sich beim Lesen des wohlklingenden „Himmelkron“ am Abfahrtsort noch eine gemütliche Landpartie ausgemalt hat, wird hier mit der ganzen Hässlichkeit eines Ortes konfrontiert, der nicht für Menschen, sondern für Fahrzeuge erschaffen wurde. Die Sinnlosigkeit dieses Aufenthalts trifft mich auch bei meiner gefühlt zweihundertsten Rückreise aus Berlin. Anstatt sie aber zu verdrängen, will ich heute aber den „janz-jenau Angucken“-Rat des Busfahrers befolgen und am Ende der Pause einfach  stehenbleiben. Sehen, ob der kollektive Hass der Fernbusreisenden auf Himmelkron schwindet, wenn man sich ihm stellt. Ob man sich mit diesem Daneben-Ort arrangieren kann. 

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Foto: Quentin Lichtblau

Wer sich auf diesen Versuch einlässt, braucht eine Verklärungsstrategie oder zumindest eine Idee von dem, was die Ausfahrt Himmelkron vielleicht auch bedeuten könnte: Eine Chance zum Innehalten, ein Ruhepol im Autobahngeflecht? Vielleicht auch ein Begegnungsort von Menschen aus unterschiedlichsten Ländern (oder wenigstens Bundesländern), vereint in der Ratlosigkeit angesichts der Zwangspause und der Rastlosigkeit ihres Lebens als Liebes-, Arbeits- oder Feiernomaden? Und falls diese Ansätze versagen, könnte Himmelkron mit seinen Frikadellenstullen, Holzfällersteaks und Spielautomaten nicht wenigstens als Biotop kauzig-ehrlichen Autobahn-Kartoffeltums herhalten? An diesem verregneten Sonntagnachmittag bleibe ich am Wartehäuschen zurück, gewillt einen Weg zu finden, mich mit Himmelkron zu versöhnen.

Als ich mich gerade schon abwenden will, hält der abfahrende Bus noch einmal an. Ein Nachzügler sprintet über den Parkplatz, der Fahrer öffnet ein letztes Mal die Tür. Das DANKE des Verspäteten übertönt den Autobahnlärm. Es klingt, als hätte man ihm gerade das Leben gerettet.

Aral, Burger King, Kippe, fertig

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Foto: Quentin Lichtblau

Zuallererst ist Himmelkron ein Ort, um wieder mit dem Rauchen anzufangen. Mit einer Kippe im Mund kann man hervorragend darüber nachdenken, ab welcher Nähe man die tankenden Autos mit seiner Sucht tatsächlich in Gefahr bringt. Der Thrill dabei entspricht ungefähr dem eines eingeschalteten Handys im Flugzeug: Irgendwie verboten, Konsequenzen im Zweifel verheerend, aber kümmert eben auch niemanden. Mit solchen Gedanken vergehen immerhin zehn Minuten. Es ist also nicht so, dass man sich in Himmelkron nicht die Zeit vertreiben könnte. Man kann zum Beispiel anhand der mehrsprachigen Hinweisschilder lernen, dass "pouze pro zákazníky" auf Tschechisch "nur für Kunden" heißt. Man kann sich fragen, wo die Palmen am künstlich angelegten „kleinen Südsee“ des Autobahnhotels Fichtelgebirgshof überwintern. Man kann sich Sanifair-Toiletten-Bons zusammenschnorren und eine Runde Gratis-Cappucino ausgeben. Oder sich eben mit brennender Kippe der Tankstelle nähern.

Bevor ich aber den Zapfsäulen zu nahe komme, tritt der Busfahrer von eben dazu. Er hat eine Stunde Pause hier, dann geht es mit dem Bus aus München zurück nach Berlin. Himmelkron ist also so etwas wie sein täglich verordnetes Ausflugsziel. Das wirft beim romantisierend-verklärenden Reisenden natürlich Fragen auf: Kennt er den besten Kuchen im Tankencafé? Oder eine Bank auf einem Hügel, von der man die Schönheit des Fichtelgebirges überblicken kann? „Ich kenn hier nischt. Für mich is dit hier Aral, Burger King, Kippe, fertig“, sagt der Busfahrer, während sich die Regentropfen in seinem Bürstenhaarschnitt verfangen. Gibt es denn irgendwas, das ihm hier gefällt? Er schüttelt mit dem Kopf wie jemand, der gerade einen Schluck abgelaufene Milch getrunken hat: „Nischt.“

Schon fährt der nächste Bus ein. Die Fahrgäste steigen aus und beginnen die 20-minütige Himmelkron-Choreographie. Die Profis in Jogginghose und Hoodie, die Anfänger haben Abdrücke vom Reißverschluss ihrer zum Kissen umfunktionierten Jacken im Gesicht. Erstmal Dehnübungen – oder was man sich eben darunter vorstellt, wenn man sonst nie Dehnübungen macht. Ein Nackenkissen landet in einer Pfütze.

Dann zieht der Tross ins Burger-King-Restaurant. Das erste Dutzend Gäste kann sich dabei auf ein halbwegs entspanntes Mittagessen freuen, der große Rest muss sich nach zehn Minuten des Wartens in der Schlange entscheiden: entweder so schnell wie möglich das Essen runterwürgen, damit noch Zeit für Toilette und Zigarette bleibt. Oder eben Nichtraucher bleiben und später die Bordtoilette benutzen, für die der Fernbusfahrer ein zehnseitiges Regelwerk verlesen hat, um seinen offenbar endlosen Vorrat an Pinkel- und Kack-Metaphern unter Beweis zu stellen.

Zum Burger-King-Einlauf der Fernbushorden erklingen die Streicher von Coldplays „Viva la Vida“, was dem Schlangestehen ein Plastik-Pathos überstülpt, als würden hier anstatt von Onionrings und Doppelwhoppern Medaillen verliehen. Danach stehen sie mit ihren braunen Fast-Food-Tüten in unaufdringlichen Abständen auf dem Parkplatz und schaufeln deren Inhalt in sich hinein. Pommes sind im Bus verboten.

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Foto: Quentin Lichtblau

Nachdem ich auch diesen Bus davonfahren lasse, bleiben mir noch anderthalb Stunden, um meinen Frieden mit Himmelkron zu machen. Die Verklärungsversuche „Oase der Ruhe neben der A9“ und „Begegnungsstätte der Reisenden“ haben versagt. Bleibt also noch die Suche nach dem urdeutschen Autobahncharme.

 

Im Raststätten-Café  gibt es Schinkennudeln und Milchkännchen. Zwei Männer in Sicherheitswesten treten ein, laut dem gelben Transporter vor der Tür verlegen sie hauptberuflich Kabel. Ein Bus fährt vorbei:“ "Boah, bis Zürich fährt der!", sagt der eine, als wäre Zürich irgendwo am Rande Sibiriens. "Das wird der Bahn nicht gefallen, das sag ich dir", sagt sein Kollege. Dann schweigen sie.

 

Der kurze Anflug von Euphorie endet an einem Zaun. Die Raststätte Himmelkron ist ein Käfig, abgeschirmt von der Zivilisation.

 

Ein Handwerker untersucht gerade eine der Kaffeemaschinen. "Hammse da unten immer Papier rein beim Reinigen?" fragt er die Dame hinter der Theke, deren Haare und Koffeinzähne in etwa dieselbe Farbe haben. "Nä, das hieß, wir sollen das nicht mehr machen", antwortet sie. Der Handwerker deutet ins Innere der Maschine: "Das muss da rein, sonst kommt da der ganze Chemiescheiß ins System. Dann hammse den Salat.“ Ich beschließe, lieber doch keinen Kaffee zu bestellen. Die beiden Kabelleger haben von der Chemiescheiß-Unterhaltung nichts mitbekommen. „Zum Hier oder zum Mit?“ fragt die Dame hinter der Theke. Sahne steht da drüben, bitteschön.

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Foto: Quentin Lichtblau

Als der Himmel kurz aufklart, entdecke ich das Weiß der Autobahnkirche am Horizont und mir fällt ein, dass Himmelkron ja auch ein Ort mit echten Einwohnern ist. Flanieren in der historischen Lindenallee, die abgefahrene Skisprungschanze, Tradition und Moderne gegen den Frust! Mit schnellen Schritten nähere ich mich dem Kirchturm in Luftlinie. Der kurze Anflug von Euphorie endet an einem Zaun. Ich presse mich an ihn, wie die vom Wind angewehten Taschentücher aus der Sickergrube um mich herum. Hinter dem Zaun die unüberwindbare A9. Die Raststätte Himmelkron Ost trägt zwar den Namens des Orts, hat aber rein gar nichts mit ihm gemein außer der Autobahnausfahrt. Sie ist ein Käfig, abgeschirmt von der Zivilisation.

Wenig später trifft der Bus Richtung München ein, den ich nicht vorbeifahren lassen werde. Noch einmal beobachte ich meine Leidensgenossen bei ihren sinnlosen Runden auf dem Parkplatz. Kaum einer redet. Fernbusmenschen sind schweigende Einzelkämpfer, die versuchen, in diesem absurden Ballett namens „Füße vertreten“ eine gewisse Restwürde auszustrahlen. Es gelingt nicht. In Himmelkron wird ihnen bewusst, dass die Nähe in der Distanz, dieses durch das Wort „Linienbus“ suggerierte Zusammenrücken der Großstädte, eine Farce war. Sie weicht der Frage, ob es nicht diese Raststätte Himmelkron ist, die das Innere der Reisenden am besten wiederspiegelt – ein Unort zwischen Berlin und München, Rausch und Ernüchterung, Liebe und Einsamkeit. Diagnose: Himmelkron-Syndrom. Aus den Blumenkübeln am Wartehäuschen wachsen Kippenstummel. Der Nieselregen setzt ein. In zwei Wochen werde ich wieder hier sein.

 

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