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Kann man negative Gefühle beeinflussen?

Illustration: Katharina Bitzl

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In unregelmäßigen Abständen treffen wir unseren Lieblingspsychologen Dr. Jens Uwe Martens und befragen ihn zu Themen, die uns bewegen. Das erste Interview drehte sich um das große Rätsel Selbstdisziplin, das zweite handelte von der Macht der Erwartungen, das dritte von Schicksalsschlägen und Krisenfestigkeit.

jetzt: Manchmal kommt es mir vor, als hätten Gefühle so etwas wie „Halbwertszeiten“. Als bliebe einem nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie abklingen. Kann die Vernunft da nichts ausrichten?

Jens Uwe Martens: Also, mir gefällt schon mal der Begriff der Halbwertszeit nicht. Das klingt ja, als würden Gefühle verschwinden. Das Potential, Gefühle zu entwickeln, haben Sie aber vorher und nachher. Was verschwindet, ist der Zusammenhang zwischen einem Gefühl und einer bestimmten Wahrnehmung.

Vielleicht ein Beispiel: Eine Zeit lang konnte ich die Musik, die ich mit 15 oder 16 gehört habe, nicht mehr so gut anhören. Sie hat in mir zu viele schmerzhafte Erinnerungen an diese Zeit ausgelöst. Nach einer Weile ging es dann aber wieder besser und heute höre ich die Musik gern, ich kann meinen Schmerz von damals romantisieren.

Eigentlich geht es bei Ihrer Frage um Lernen. Was ist Lernen? Man versteht es grundsätzlich als Verhaltensänderung: Wenn wir etwas plötzlich anders machen als vorher, haben wir in der Zwischenzeit etwas gelernt. Gefühle lernen wir nicht. Trauer, Ärger, Wut haben wir einfach – und verlieben tun wir uns auch einfach so, das ist etwas Hormonelles. Aber auf was beziehen sich diese Gefühle, durch welche Reize werden sie ausgelöst? Diese Verbindung ist erlernt. Wenn Sie die Musik von damals heute nicht mehr traurig macht, haben sie in der Zwischenzeit gelernt, den Reiz der Melodie nicht mehr mit einem negativen, sondern mit einem positiven Gefühl zu verknüpfen, oder eher: einer positiven Bewertung des negativen Gefühls von damals.

Und wie genau ist das abgelaufen?

Sie haben im Laufe der Zeit Neues erlebt und empfinden ihren Schmerz von früher nicht mehr als vernichtend. Sie wissen, dass er sie auch etwas gelehrt hat und können wohlwollend darauf zurückblicken. Vor allem aber haben Sie die konkreten, alten Melodien von damals in der Zwischenzeit immer mal wieder angehört und mit ihnen sowohl diese neuen Erkenntnisse als auch neue positive Momente verknüpft und die Verbindung zu dem alten Schmerz so langsam aufgelöst.

Nehmen wir noch ein Beispiel: Menschen, die ihren Partner verloren oder sich von ihm getrennt haben, sagen oft: Nachdem ich alle wichtigen Termine im Jahr – also Geburtstag, Weihnachten und Ähnliches – einmal ohne diese Person erlebt hatte, ging es mir schon viel besser.

Ja, weil man Termine auch mit etwas assoziiert. Wenn Sie Weihnachten, Geburtstage, Feiertage immer mit einer bestimmten Person erlebt haben, sind diese Termine stark mit den Gefühlen dieser Person gegenüber verknüpft. Man muss sie sozusagen erst „neu belegen“, mit neuen, anderen schönen Erinnerungen füllen, damit sie einen nicht für den Rest des Lebens ausschließlich an diese eine Person und ihren schmerzhaften Verlust erinnern.   

"Man kann Gefühle auch konservieren, wenn man nicht aufpasst"

Das heißt aber auch, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, diese Verbindung zwischen Reiz und Gefühl aufzulösen. Dass also nicht nur die Zeit alle Wunden heilt.

Zeit ist schon ein Faktor im Heilungsprozess, weil Zeit eben oft bedeutet, dass man von ganz allein neue Erfahrungen macht, die einem helfen, das Erlebte aus anderen Perspektiven zu betrachten. Aber es hilft, das immer wieder aktiv zu reflektieren oder herauszufordern, denn man kann Gefühle auch konservieren, wenn man nicht aufpasst.

Zum Beispiel?

Ich kenne eine Frau, die wurde vor 30 Jahren von ihrem Mann verlassen und leidet darunter bis heute. Sie hat sich nicht nur nie wieder einem anderen Mann geöffnet, sie hat sich auch nie wieder darauf eingelassen, diesem Ex-Mann zu begegnen und so neue, positive oder zumindest veränderte Erlebnisse mit ihm zu verknüpfen. Das ist deshalb ein Problem, weil die beiden ein Kind haben und daher immer wieder Gefahr laufen, sich zu begegnen. Sie geht seit 30 Jahren nirgends hin, wo er sein könnte. Und so wird sie ihren alten Ärger auch nicht los. Sie konserviert ihn.

Klingt logisch. Aber wenn sie es eben einfach nicht übers Herz bringt, weil die Gefühle zu stark sind?

Mir ist klar, dass einen Gefühle überrumpeln können und dass sie oft stärker sind als die Vernunft. Was ich fühle, darauf habe ich wenig bis gar keinen Einfluss. Aber man kann sich mental eine Art Stopp-Schild einrichten, das aufleuchtet, bevor man aus einem starken Gefühl heraus Verhaltensweisen ableitet. Das wird die Gefühle zunächst nicht reduzieren, aber das eigene Verhalten ändern.

Das ist aber schwer. Banales Beispiel: Ich erlebe eine Niederlage im Job, werde kritisiert und fühle mich als Versager. Und bin es ja irgendwie auch. Wie komme ich von diesem vernichtenden Gefühl jetzt weg?

Dass Sie darauf mit Gefühlen wie Scham und Trauer reagieren, ist unabänderlich. Aber wie Sie wiederum auf diese Gefühle reagieren, ist nur erlernt. Sie können es ändern.

"Es ist so schwer, mit Verhaltensmustern zu brechen, weil es sich unsicher und ungewohnt anfühlt. Man möchte sich lieber in Sicherheit wiegen"

Aber wie und wann habe ich diese Gefühlsreaktionen denn erlernt?

Meistens in der Kindheit. Wir übernehmen bereits sehr früh sowohl bestimmte Deutungs- als auch Verhaltensmodelle von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen…

…und denken dann, eine solche Deutung oder Reaktion auf eine Situation oder ein Gefühl sei die Normalität und das „Richtige“?

Genau. Dieser Mechanismus ist weit verbreitet, sie können das in jeder sozialen Gruppe beobachten, nicht nur innerhalb einer Familie. Nehmen wir ganz aktuell die Rechtsextremen. Deren Deutungsmodell ist es, dass Deutschland wieder groß werden muss und Ausländer böse sind. Das wird nicht aufgelöst, so lange sie sich mit Leuten umgeben, die sie in dieser Meinung bestärken. Im Internet lesen sie dann auch nur die Sachen, die sie in ihrer Meinung bestärken. Wenn ich mich von allem abkapsele, was meine Deutung stören könnte, kann ich meine Wahrheit behalten und fühle mich „richtig“ und geschützt. Deshalb ist es so schwer, mit Verhaltensmustern zu brechen. Es fühlt sich unsicher und ungewohnt an, man möchte sich lieber in dem sicheren Gefühl wiegen, Recht zu haben und auf der „guten“ Seite zu stehen.

Wie übe ich es aber jetzt konkret, dass mich zum Beispiel die Scham ob einer Kritik nicht mehr so mitnimmt?

Indem Sie sich trotz der Intensität des Gefühls vor Augen halten, was Sache ist: Ist die Kritik denn überhaupt berechtigt? Was könnte eine Person dazu bewogen haben, Ihnen diese Kritik auszusprechen? Gibt es da vielleicht Gründe, die gar nichts mit Ihnen oder Ihrer Arbeit zu tun haben? Und wenn sie es doch haben: Was können Sie daraus lernen? Berechtigte Kritik gibt Ihnen ja die Chance, etwas zu lernen. Es so zu betrachten ist hilfreicher, als sich einfach nur selbst auf die Rolle des Totalversagers festzunageln. Das klingt mechanistisch und ist anfangs schwer, aber wenn sie es richtig oft üben, reagieren sie auf Kritik in Zukunft nicht mehr mit selbstvernichtenden Gedanken, sondern mit dem tapferen Entschluss, daran zu wachsen. Es wird zu so etwas wie einer Gewohnheit.

Man kann gesündere Gefühlsreaktionen also tatsächlich „üben“.

Sie können jedes Gefühl mit jeder Wahrnehmung assoziieren. Damit arbeitet ja auch die Werbung. Zigarettenmarken produzieren gern die Sehnsucht nach der weiten Welt. Was hat eine Zigarette mit der weiten Welt zu tun? Faktisch gar nichts! Aber man kann es suggerieren und in den Köpfen verankern, indem man sehnsüchtige Landschaftsbilder mit dem Namen einer Zigarettenmarke verbindet. Sie kaufen die Marke, weil sie glauben, damit ein Freiheitsgefühl zu kaufen. Das ist doch faszinierend. Man kann ihnen auf diese Weise alles einreden, sogar, dass Sie Zahnarztstühle sexy finden.

Mehr Lebenshilfe? Bitte sehr:

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