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Wie wird man mit Schicksalsschlägen fertig?

Foto: norndara / photocase.de

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Der Psychologe Dr. Jens Uwe Martens hat seine erste Frau und zwei Kinder bei einem Flugzeugunglück verloren – und ein Buch darüber geschrieben. Wir haben mit ihm über Schicksalsschläge und Krisenfestigkeit gesprochen.

jetzt: Herr Martens, ich habe eine wahnsinnige Angst vor Schicksalsschlägen. Egal an was ich denke: eine plötzliche Querschnittslähmung, eine schwere Krankheit – ich fürchte, ich würde nicht mehr weiterleben wollen.

Dr. Jens-Uwe Martens: Ich kann Sie gut verstehen. Aber ich sage Ihnen auch: Das denken Sie jetzt. Stephen Hawking wurde einmal gefragt, wann er glücklicher war. Im Rollstuhl oder vor seiner Behinderung. Er sagte: Ja, natürlich heute. Seine Krankheit hat ihn dazu gebracht, sich auf das zu konzentrieren, was er noch kann, aufs Denken, auf die Physik. Dadurch hat er irre viel in der Welt bewegt. Sehen Sie, das Leben sieht manchmal aus wie ein entsetzlicher Weg. Und trotzdem kann man ihn gehen. Deshalb heißt unser Buch „Das Geheimnis seelischer Kraft“. Wir ahnen nicht, was wir für Kräfte in uns tragen, bis wir sie brauchen.

Sie selbst haben Ihre erste Frau und Ihre beiden Kinder bei einem Flugzeugunglück verloren und sind doch wieder glücklich geworden.

Ja. Und da ich mich als Psychologe jetzt so viele Jahre mit dem Thema Resilienz auseinandergesetzt habe, weiß ich auch, welche Faktoren die Verarbeitung eines Schicksalschlags ermöglichen. Aber wenn ich mir die Situation emotional vorstelle, halte ich das nicht aus. Ich würde sofort kapitulieren wollen, nicht mehr weiterleben, ganz genau wie Sie es beschreiben. Aber es gibt zum Glück Mechanismen in unserem Inneren, die uns im Echtfall davon abhalten, durchzudrehen.

„Ich bin wie ein Zombie durch die Welt gelaufen und habe selbst am Grab meiner Familie nichts empfunden“

Zum Beispiel?

Ein Faktor, der sonst bisher in keinem Werk zum Thema Resilienz auftaucht, und den meine Kollegin Birgit Begus und ich aber in unser Buch aufgenommen haben, ist der der Gefühllosigkeit. Man kann ihn im Gegensatz zu den anderen Faktoren, die wir als hilfreich analysiert haben, nicht willentlich hervorrufen. Er tritt automatisch ein, wenn das Erlebte wirklich sehr schlimm ist. Es ist, wie wenn man sich mit dem Hammer auf den Daumen haut. Im ersten Moment fühlt man nichts. Körpereigene Endorphine betäuben nach einem schrecklichen Erlebnis die emotionale Beteiligung des Körpers, weil die seelischen Schmerzen sonst nicht auszuhalten wären. Erst nach und nach kommen die Gefühle zurück. Bei mir hat es damals fast ein Jahr gedauert. Ich bin wie ein Zombie durch die Welt gelaufen und habe selbst am Grab meiner Familie nichts empfunden.

 Sie haben mir mal von Ihrer Schwester erzählt, deren Tochter eine Schizophrenie-Diagnose erhalten und sich kurze Zeit später das Leben genommen hat. Ihre Schwester hat den Suizid ihrer eigenen Tochter nicht verkraftet und ist ein paar Monate später an gebrochenem Herzen gestorben, wie Sie es formulierten. Und das, obwohl Sie versucht hatten, ihr Mut zu machen als jemand, der selbst Schreckliches erlebt hat. Warum schaffen es einige Menschen und andere nicht?

Ich weiß darauf noch immer keine eindeutige Antwort, trotz all meiner Forschungen. Es gibt dieses Sprichwort: Wenn du nicht tausend Meilen in den Mokassins deines Nächsten gelaufen bist, dann halte dich mit deinem Urteil über ihn zurück. Wir stecken nicht in der Haut der anderen, jeder Mensch ist anders. In unserem Buch haben wir nur Fälle analysiert, in denen es Menschen gelungen ist, mit ihrem schweren Schicksal fertig zu werden. Man kann nicht garantieren, dass die Faktoren, die wir herausgearbeitet haben, jedem Menschen helfen. Es gibt auch die, die es nicht schaffen. Und wer sind wir, darüber zu urteilen, warum? Aber ich denke mir schon manchmal: Früher wusste ich als Psychologe noch nicht so viel wie heute. Vielleicht wäre es mir mit meinen heutigen Erkenntnissen gelungen, meine Schwester wieder aufzubauen.

„Wenn wir unser Unglück reflektieren, ändern wir unsere Vorstellung davon“

Was hätten Sie getan?

Ich hätte ihr zum Beispiel vorgeschlagen, darüber zu schreiben. Über das Erlebte zu schreiben hilft ungemein, das ist wissenschaftlich bewiesen. Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die über ihre traumatischen Erlebnisse schreiben, und seien es auch nur 15 Minuten am Tag, positiver gestimmt sind, ein stärkeres Immunsystem und bessere Beziehungen haben als Menschen, die es nicht tun. Und schauen Sie mich an. Ein Freund hat mir neulich gesagt: Wenn man sich die Bücher ansieht, die du geschrieben hast, könnte man glatt auf die Idee kommen, dass du die eigentlich alle nur schreibst, um mit deinem Schicksal klar zu kommen. Und dann hab ich gedacht: Haste recht. Aber es geht nicht um die Veröffentlichung, es geht um den Prozess des Schreibens.

Wie hilft der?

Wenn wir unser Unglück reflektieren, ändern wir unsere Vorstellung davon. Wir versuchen zu verstehen, wir deuten, wir üben verschiedene Perspektiven, wir beeinflussen die Empfindungen, die wir mit dem Geschehenen verbinden und nehmen uns selbst den Schrecken. Aber man muss auch mit Menschen sprechen. Man möchte sich zwar am liebsten wie ein verletztes Reh zurückziehen, aber wir sind soziale Wesen, wir brauchen das Zusammensein mit anderen und das Gefühl, dass da jemand ist, der uns auffängt und zuhört.

Eine Freundin von mir hat vor Jahren bei einem Unfall ein Familienmitglied verloren. Ich erinnere mich, dass sie sich damals einen Therapeuten suchte, um darüber zu sprechen, weil sie wusste, dass es wichtig ist. Aber sie hat es abgebrochen, weil sie sagte, dass das Drüberreden alles nur noch schlimmer mache.

Mir ist das erst natürlich auch so gegangen. Wenn ich über mein Unglück geredet habe, habe ich regelrechte Nervenzusammenbrüche erlitten. Habe unkontrolliert geheult, konnte nicht mehr weiterreden. Aber wenn man diese Konfrontation scheut, verdrängt man es nur und es holt einen später ein. Man spricht bei dieser Konfrontation von Trauerarbeit. Der Begriff hatte mir bis dato nie etwas gesagt. Trauer ist doch keine Arbeit! Fand ich höchst widersprüchlich. Aber doch, es ist Arbeit. Es ist sehr anstrengend, es ist mühevoll, es erfordert harte Disziplin, ganz so wie Arbeit eben auch. Und es gibt Fallstricke, die man beachten sollte.

Die da wären?

Was das Sprechen über das traumatische Erlebnis angeht, würde ich jedem empfehlen, seine Gesprächspartner sorgsam auszuwählen. Vielleicht war es bei Ihrer Freundin damals ja auch einfach der falsche Therapeut? Das Gespräch mit einem Therapeuten dürfte nicht belastend sein, es müsste zumindest weniger belastend sein als das Gespräch mit einem Freund. Da muss man sowieso aufpassen: Freunde haben nämlich immer die Tendenz, einen zu trösten. „Zeit heilt alle Wunden, das ist nicht so schlimm, du wirst schon sehen“ – solche Sätze kommen da. Sie mögen ja stimmen. Aber man möchte sie nicht hören und sie sind auch nicht hilfreich.

„Mitleid ist Gift. Man will nicht hören, wie arm man dran ist“

Warum nicht?

Wenn Menschen so etwas sagen, dann kann man davon ausgehen, dass sie eigentlich nur versuchen, sich selbst zu trösten. Ein Nicht-Betroffener kann meist noch viel weniger ertragen, was dem anderen zugestoßen ist, als der Betroffene selbst. Er denkt, wie Sie selbst ja zu Beginn des Gespräches formuliert hatten: Um Gottes willen! Das ist ja nicht auszuhalten! Wie ginge es wohl mir in dieser Situation? Um diesen eigenen Schmerz weniger schlimm zu machen, redet man dann so beschwichtigend daher: Wird schon wieder, warte mal ab, …

Was sollte man stattdessen tun? 

Nehmen Sie einfach ehrlich Anteil. Sagen sie: „Schrecklich, was dir passiert ist.“ Hören Sie nur zu. Oder sagen sie: „Toll, wie du das aushältst.“ Das wiederum ermutigt, weil der Betroffene denkt: Stimmt, eigentlich toll, dass ich es überhaupt aushalte. Und was auch Gift ist: Mitleid. Man will nicht hören, wie arm man dran ist, das macht einen nur noch kleiner. Das sagt auch Stephen Hawking: Bloß kein Mitleid. Behätschelt mich nicht, sondern behandelt mich, als wäre alles in Ordnung. Gebt mir alle Chance, zu zeigen, was ich trotz allem noch kann.

Was hilft noch?

Wissen Sie, eine ganz wichtiger Resilienzfaktor ist Sinn. Mein erster Sohn, der später im Flugzeug gestorben ist, hatte keine Hoden. Meine Frau und ich waren verzweifelt. Dann hat ein Freund, ein Arzt, mir gesagt: „Hör mal, du bist Psychologe, ihr seid ein glückliches Paar – ist es nicht eigentlich sehr gut eingerichtet, dass ausgerechnet ihr so einen seltenen Fall beschert bekommen habt? Wenn es irgendjemandem gelingt, einen Menschen ohne Hoden so großzuziehen, dass er alle Voraussetzungen für ein gutes und erfülltes Leben mitbekommt, dann doch wohl ihr.“ Spüren Sie, wie sich da was ändern kann?

Ich habe eine Ahnung.

Vorher: Wieso passiert es ausgerechnet mir? Und dann: Ich habe eine Aufgabe, und die nehme ich an. Aufgabe ist Sinn. Natürlich geht das schon ein bisschen in Richtung Glaube. Es ist nachgewiesen, dass Menschen, die gläubig sind, sich nach Operationen schneller erholen. Das hat nichts damit zu tun, dass der liebe Gott persönlich einem hilft, sondern mehr damit, dass diese Menschen aus ganzem Herzen auf etwas vertrauen und das macht sie stark.

Mir fällt es schwer, zu glauben. Aber natürlich, das leuchtet mir schon ein: Was bleibt einem übrig, als einen Sinn in dem zu suchen, was einem zustößt?

Lassen wir die Kirche mal ganz außen vor. Ich war gerade in Rom. Wenn man sich diese Bauwerke dort ansieht, die Kuppeln, die Ruinen, da fühlt man doch, dass … oder noch einfacher: Ich liebe Bäume! Vor so einer Rieseneiche zu stehen, das kann man doch mit Worten gar nicht beschreiben, was man da fühlt. Ich fühle dann, dass da noch mehr auf der Welt ist als Willkür und Mathematik.

Ich verstehe schon, was Sie meinen…

…aber bleiben wir ruhig ganz praktisch: Zur Sinnsuche gehört auch die Selbsterkenntnis.

„Mich hat damals sehr belastet, dass ich das Gefühl hatte, alle Welt erwartet von mir, dass ich trauere“

Wie meinen Sie?

Bei Stephen Hawking war es ja dieser ungeheure Drang, die Weltformel entdecken zu wollen. Er hat sich völlig dieser Aufgabe verschrieben. Das kann helfen. Die Vertiefung in Arbeit kann ungeheuer helfen. Aber man muss natürlich erstmal seine Stärken und Schwächen kennen, um zu entscheiden, worauf man seine Aufmerksamkeit richten mag und vor allem noch kann. Anstatt nur zu beweinen, was man nicht mehr kann und was man verloren hat. Dieses Gestaltersein ist ein ganz wichtiger Resilienzfaktor. Das hat nichts mit Tun zu tun, das ist im Kopf.

Und was noch?

Mich hat damals sehr belastet, dass ich das Gefühl hatte, alle Welt erwartet von mir, dass ich trauere. Dass ich es zeige. Da habe ich mich ganz intuitiv gegen gewehrt. Denn auf eine Weise heißt das ja, dass man nicht mehr glücklich sein darf, keine Freude erleben darf. Und das wäre fatal. Man muss sich erlauben, glücklich zu sein. Ich habe anderen zwar davon erzählt, wie es mir geht und dass ich trauere, aber getrauert habe ich für mich allein. Noch heute erzähle ich niemandem, wann ich zum Grab gehe oder wie oft. Oh und, ….

Ja?

Eins haben wir noch nicht angesprochen, Sie wissen, es ist eines meiner Lieblingsthemen: Sich fit halten! Das ist wirklich ein großer Resilienzfaktor. Wir sind auch Körperwesen. Gerade Leuten, die geistig arbeiten, muss man das immer wieder sagen. In Ihrem Alter ist das noch nicht so wichtig. Aber wenn Sie mal 40 werden, da müssen Sie allmählich wirklich aufpassen, was Sie mit Ihrem Körper machen. Das rächt sich, wenn wir unseren Körper schlecht behandeln. Es ist ganz einfach: Wenn wir mehr Sauerstoff im Gehirn haben, sind wir alerter, stabiler, kräftiger, als wenn wir weniger Sauerstoff im Kopf haben. Und das hängt vom Kreislauf ab. Und der muss gefördert werden.

Anmerkung der Redaktion: Wenn Du Dich selbst von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen fühlst, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge oder U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 gibt es Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 21. Oktober 2016 und wurde am 24. Juni 2020 sowie am 8. Juli 2021  noch einmal veröffentlicht.

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