Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ich bin nicht schüchtern!

Illustration: Federico Delfrati

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Wenn ich in einer größeren Gruppe unterwegs bin, sage ich oft kein Wort. Ich kann zwei Stunden dasitzen und zuhören. Früher hat mich das oft geärgert. Ich habe meine Zurückhaltung verflucht und wollte so gerne einmal spontan meine Meinung sagen oder etwas Witziges erzählen. Meist fällt mir in solchen Situationen aber nichts ein. Manchmal fragen andere aus der Runde: „Was ist los? Warum bist du so still?“ 

Ich beobachte nur gerne, bevor ich etwas sage oder tue

Die Anwort: Nichts ist los. Ich bin eben so. Ich bin introvertiert. Und das ist nichts Schlechtes. Früher nannte ich es schüchtern und fand es sehr schlimm. Heute weiß ich: Schüchtern und introvertiert sind zwei ganz verschiedene Dinge – und schüchtern bin ich nicht. Schüchternheit ist die Angst, dass andere Menschen einen nicht mögen. Solch eine Angst kann sich entwickeln, wenn man viel Kritik oder Ablehnung erfahren hat. Aber ich habe keine Angst vor Zurückweisung. Ich beobachte nur gerne, bevor ich etwas sage oder tue. Früher habe ich wegen dieser angeblichen Schüchternheit viel mit mir gehadert, hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht mit auf Partys gehen wollte oder eine Freundin mit ihrer Clique begleiten. Heute weiß ich, dass ich mir auch einen Abend auf der Couch gönnen darf, weil mir das gut tut.

Zwischen dem Früher und dem Heute steht eine Erkenntnis, die zunächst ganz einfach klingt. Ich habe gelernt, dass ich introvertiert bin und ich habe mich mit Introversion auseinandergesetzt. Um genauer zu verstehen, was dabei mit mir passiert ist, spreche ich mit Sylvia Löhken. Sie ist Coach für Intro- und Extrovertierte. Eines ihrer Bücher zu dem Thema heißt „Leise Menschen – starke Wirkung“.

Sie sagt: „Es ist super beruhigend zu wissen: Ich bin normal, mit mir ist alles okay.“ Damit beschreibt sie sehr gut das Gefühl, das ich hatte, als ich im Internet auf einen Blogeintrag stieß. Der Titel: 92 Eigenschaften von Introvertierten. In fast allen Punkten auf der Liste fand ich mich wieder. Dort stand: „Introvertierte sind nicht besonders spontan. Sie beobachten lieber erst andere, bevor sie selbst aktiv werden.“ Oder: „Introvertierte mögen keinen Small Talk. Sie können es von Natur aus auch nicht besonders gut.“ Eigenschaften, die ich gerne aus meiner Persönlichkeit getilgt hätte.

Introvertierte sind sehr gewissenhaft und verantwortungsbewusst

Da stand aber auch: Introvertierte sind die besseren Zuhörer. Introvertierte sind aufmerksame Beobachter. Introvertierte sind sehr gewissenhaft und verantwortungsbewusst. Eigenschaften, die mir bewusst waren, die ich aber nie mit meiner Zurückhaltung in Verbindung gebracht hatte. Plötzlich verstand ich: Die Introversion ist ein Gesamtpaket. Durch sie habe ich die Charakterzüge, auf die ich gut verzichten könnte. Aber genauso habe ich dadurch Merkmale, die ich an mir mag, die ich aber auch oft als selbstverständlich hingenommen habe. Löhken, die sich selbst als „Intro“ bezeichnet, sagt: „Wir Introvertierte neigen dazu zu denken, dass das, was wir gut können, gar nichts Besonderes ist. Aber Stärken sind immer besonders. Sie nutzen uns und anderen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir wissen, welche wir haben."

Plötzlich hatte ich also eine ganze Liste an Stärken, die Konsequenzen meiner Introvertiertheit sind. Natürlich sind diese Eigenschaften nicht bei allen Introvertierten gleich ausgeprägt. Man kann mehr oder weniger stark introvertiert sein und es gibt viele andere Faktoren, die die Persönlichkeit prägen. Es gibt aber bestimmte Gegensätze zwischen Extro- und Introvertierten, die sich auf Unterschiede im Gehirn zurückführen lassen. Introvertierte sind zum Beispiel schneller überstimuliert. „Der Parkplatz im Gehirn, wo die Sinneseindrücke hereinkommen, ist bei Introvertierten kleiner als bei Extrovertierten“, sagt Löhken. Wenn ich also in einer großen Gruppe oder in einer lauten Umgebung sitze, hat mein Gehirn schon viel damit zu tun, all die Eindrücke zu verarbeiten. Ein Extrovertierter blüht in so einer Umgebung erst richtig auf, weil ihm ohne diese Stimulation schnell langweilig wäre.

Dadurch, dass ich anfing, mich mit Introversion zu beschäftigen, hatte ich auf einmal Erklärungen für mein Verhalten und meine Bedürfnisse. Ich tanke Energie, wenn ich alleine oder mit wenigen Menschen zusammen bin. Daher ermüdet mich eine Party mit vielen Menschen schneller, während eine extrovertierte Freundin total in dem Trubel aufgeht, ein Gespräch nach dem anderen anfängt und die Aufmerksamkeit genießt.

Vermutlich fällt es mir deshalb so schwer, in Vorstellungsgesprächen einen klaren Gedanken zu fassen

Ich denke, bevor ich spreche. Meine Gedanken ordne ich zunächst in meinem Kopf und nicht erst dadurch, dass ich sie ausspreche. Daher ist ein Gespräch oft schon zum nächsten Thema gezogen, bevor ich mir meine Meinung zurechtgelegt habe. Ich werde nervös, wenn ich beobachtet werde, und kann meine Leistung dann nicht voll abrufen. Vermutlich fällt es mir deshalb so schwer, in Vorstellungsgesprächen einen klaren Gedanken zu fassen.

Dass ich so sehr mit manchen meiner introvertierten Eigenschaften gehadert habe, hängt auch damit zusammen, dass ich in einer extrovertierten Gesellschaft lebe. Löhken hat einige Jahre in Japan gearbeitet. Sie sagt: „Dort wird von einem angenehmen Mitglied der Gesellschaft erwartet, dass dieser Mensch nur dann redet, wenn er etwas zu sagen hat. Da kann es in einem Gespräch passieren, dass Sie nebeneinander sitzen und eine Zeitlang schweigen, bis Ihnen wieder etwas einfällt.“

Bei uns wird eine Gesprächspause zur peinlichen Stille, die man möglichst schnell überbrücken möchte. Oft versuchen Menschen mich aus der Reserve zu locken, indem sie mich dazu auffordern, einen Schwank aus meinem Leben zu erzählen. Das funktioniert nicht. Sofort fühle ich alle Augen auf mich gerichtet und mir fällt spontan nichts ein.

Jetzt, wo ich das weiß, kann ich aber besser damit umgehen. Ich kann sagen; „Stell mir doch lieber eine konkrete Frage.“ Oder ich frage selbst etwas und versuche, das Gespräch weiter zu lenken. Ich muss nicht etwas sein, was ich nicht bin. Löhken nennt Menschen, die sich gut kennen, und auf ihre Bedürfnisse achten, „fortgeschrittene Intros.“ Um zu diesem Punkt zu kommen, muss man natürlich erst einmal wissen, dass man introvertiert ist. Wer sich nicht sicher ist, findet auf Löhkens Website einen einfachen Test.  In erster Linie muss man aber auf sich selbst hören und erspüren: Was tut mir gut? Welches Verhalten liegt mir?

Ein einfaches Beispiel: Viele Introvertierte drücken sich lieber schriftlich als mündlich aus. Löhken sagt: „Der typische Extro greift zum Telefon. Wenn ich die Wahl habe, schreibe ich lieber eine E-Mail, da kann ich genau überlegen, was ich wissen will.“ Intuitiv habe ich das schon vorher gemacht. Nun weiß ich, dass ich meine Stärken in der schriftlichen Kommunikation besser ausspielen kann. Gerne schreibe ich zum Beispiel eine Interviewanfrage erst einmal per E-Mail, stecke schon einmal den groben Rahmen ab, und verabrede mich für ein Telefongespräch.

Wenn ich mit Freunden in den Urlaub fahre, ziehe ich mich auch mal bewusst eine Stunde zurück, um wieder mit Energie in den Abend zu starten. Wenn ich auf einer Feier bin, spreche ich lieber mit Einzelnen, als in einer großen Runde zu stehen. Wenn ich in einer Konferenz ein Thema vorschlagen möchte, überlege ich mir vorher genau, was ich sage und wie ich es sage.

Das Feedback nach meinem ersten Praktikum klang ungefähr so: „Wir sind total zufrieden mit dir, aber ich möchte dir noch etwas mitgeben. Du könntest noch an deiner Stimme arbeiten. Die lässt dich viel unsicherer wirken, als du bist.“ Ja, ich rede leise. Und ja, ich habe versucht, das zu ändern. Ich bin drei Monate lang zu einer Logopädin gegangen. Danach habe ich angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen. Das hat mir Spaß gemacht, aber meine Sprechstimme hat sich dadurch nicht verändert. Ich rede immer noch leise. Aber ich ärgere mich nicht mehr darüber. Ich weiß: Das ist ein Teil von mir. Ich habe zwar ein Praktikum beim Radio gemacht, aber ich will mich nicht in diese Richtung spezialisieren. Meine Stärken liegen im Schreiben, nicht im Reden. Und ich habe gemerkt, dass ich trotzdem erfolgreich sein kann. Ich kann mich gut in neue Themen eindenken, sehe Kleinigkeiten, die andere nicht sehen.

Weil ich mich nun besser kenne, kann ich meine Stärken ausbauen und an manchen Schwächen arbeiten. Aber nicht an allen und nicht so verbissen. Ich muss nicht gleichzeitig Small-Talk üben, meine Schlagfertigkeit trainieren und an meiner Stimme arbeiten. Für den Moment reicht es, mich auf mein nächstes Vorstellungsgespräch vorzubereiten. Mit etwas Glück habe ich das in zweieinhalb Monaten. Genug Zeit, mir auf jede erdenkliche Frage eine Antwort zu überlegen. Denn Beharrlichkeit ist eine meiner Stärken.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zum ersten Mal am 18. Februar 2017 und wurde am 23. Juni 2020 noch einmal veröffentlicht.

  • teilen
  • schließen