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Wie geht man mit extremen Meinungen um?

Foto: Oliver Killig / dpa

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Meine erste ideologische Diskussion hatte ich an meinem ersten Tag im Kindergarten. Ich baute einen Turm aus Holzklötzchen, der dann mit einem einzigen Schlag vom Nägele-Christoph (Name geändert) kaputt gemacht wurde. Er erklärte mir fanatisch, dass Straßen das einzig richtige seien, was man aus Klötzchen bauen kann. Für mich war das absurd und ich sagte, dass Türme das einzig richtige seien, worauf er... und so weiter. Es war für mich unvorstellbar, dass er die Wahrheit nicht sehen konnte, weil sie für mich doch so offensichtlich war. Ich lernte, wie völlig aussichtslos es ist, jemanden von seiner Sicht der Dinge überzeugen zu wollen. Aber ist es das? 

Am unerträglichsten ist diese Erfahrung der Machtlosigkeit natürlich, wenn es um mehr geht als Bauklötzchen. Etwa um Fragen der Moral, der Gerechtigkeit, des Zusammenlebens, um Politik. Die entscheidenden Momente, in denen wir glauben, für unsere Überzeugungen einstehen zu müssen. Und über die wir uns verorten können in der Welt. Gerade jetzt, wo überall Populismus und einfache Antworten die Runde machen, rechnet man hinter jeder Ecke mit so einem Zusammenstoß.

Aber wie verhält man sich dann? In einer Auseinandersetzung mit einem Menschen, dessen Einstellung der eigenen diametral entgegengesetzt ist? Wenn Fakten, Meinung und Emotion längst untrennbar verschmolzen sind? Wenn Hass im Spiel ist? Hat reden dann überhaupt Sinn?

Sicher, solche Situationen bleiben eher selten. Vielleicht hört man mal an der Supermarktkasse einen fremdenfeindlichen Kommentar und schafft es im Idealfall dann gerade noch, verkrampft irgendwas vor sich hinzumurmeln. Danach stellt man sich stundenlang vor, was man eigentlich hätte sagen müssen und ärgert sich. Aber worüber eigentlich: Darüber, dass dieser Mensch weiterhin mit seiner feindseligen Meinung durch die Welt rennt und man nichts daran ändern konnte? Oder nagt nicht auch einfach der verletzte Stolz an einem? Weil man doch eigentlich im Recht ist? Und überhaupt – normalerweise viel eloquenter!

Keine Labels verwenden

Christian Rausch, Vizepräsident des Debattierklubs München, weiß, dass der Hang zur Selbstdarstellung ein unvermeidbarer Teil jeder Diskussion ist. Aber je eher man es schaffe, diesen zu überwinden, desto glaubhafter wird eine Argumentation. Sich in leidenschaftliche Empörung und Vorwürfe zu flüchten, ist einfach, bewirkt aber, dass der andere das Gleiche tut. „Grundsätzlich ist es sinnvoll, erst mal keine Labels zu verwenden. Wenn ich zum Beispiel eine fremdenfeindliche Äußerung höre und einfach nur sage ‚Das ist aber rassistisch!’, dann kann es passieren, dass die andere Person meint, einfach mit der ‚Nazi-Keule’ von den ‚Linken’ mundtot gemacht zu werden, dann sofort dicht macht und für keine Argumentation mehr zugänglich ist.“ Stattdessen solle man mit einer offenen Frage antworten, um herauszufinden, was den anderen eigentlich antreibt. Es geht darum, die Logik des anderen nachzuvollziehen, seine gedankliche Route nachzugehen, um ihm an den entscheidenden Abzweigungen eine Alternative anzubieten.

Aber liegt hier nicht das Dilemma von Kommunikation schlechthin? Angenommen, ich schaffe es, mich aufzuraffen, die Person am Supermarkteingang abzufangen und zur Rede zu stellen. Und angenommen, ich bin ein echtes Debattier-Tier, das alle Tricks kennt. Kann er mich überhaupt jemals verstehen? Oder ich ihn? Schließlich leben wir in separaten Realitäten. Schon allein deshalb, weil er beim Gespräch Auge in Auge genau den Ausschnitt der Welt sieht, den ich gerade nicht sehe.

Wie soll es da möglich sein, jemals eine Deckungsgleichheit zweier Einstellungen zu erreichen, die nicht nur unter meistens völlig verschiedenen Bedingungen entstanden sind, sondern für die die jeweils andere Einstellung auch noch in die Kategorien „falsch“, „schlecht“ oder „gefährlich“ fällt? Dabei wäre es so befriedigend, gerade dieser, mir genau entgegengesetzten Weltsicht einen Einblick in meine eigene zu ermöglichen, sei es auch nur für eine Millisekunde, um sie als das erkennbar zu machen, was sie ist – die Wahrheit natürlich.

Es lohnt sich, sich in jemanden hineinzuversetzen

Aber die Sprache, der einzige Weg von meinem Kopfinneren in das des anderen, ist so begrenzt und hilflos. Und weil ich früh (in der Holzklötzchenecke der Apfelgruppe) gelernt habe, dass erklären und verständlich machen der eigenen Sicht ein zäher und oft aussichtsloser Versuch ist, würde ich mich vermutlich irgendwann mit bequemeren Methoden wie leidenschaftlichem verteidigen oder beschuldigen begnügen.

Nur führt so eine Form der Diskussion kaum zu einer echten Einstellungsänderung, sondern viel eher dazu, dass sich beide Seiten in ihrer Meinung festigen und Defensivstrategien entwickeln. Dabei lohnt es sich, sich in jemanden hineinzuversetzen.

Beim sportlichen Debattieren ist das eine entscheidende Fähigkeit, die gezielt gefördert wird. Weil hier die Themen und Standpunkte vor den Debatten zugelost werden, ist man regelmäßig gezwungen, nicht nur umzudenken, sondern oft auch dazu, Meinungen mit aller Kraft zu verteidigen, die man sonst verachten würde. Dadurch bekommt man ein Gespür dafür, wie man Schnittmengen mit seinem Gegner findet, einen gemeinsamen Grund, den man dann als Basisstation nutzen kann für den Versuch, den anderen mitzunehmen in das Gebirge der eigenen Logik.

„Der erste Schritt einer guten Argumentation besteht darin, sich auf etwas zu einigen. Das kann manchmal auch nur ein ganz grundlegendes Prinzip sein wie ‚Lügen ist schlecht’ oder ‚Freiheit ist gut’. Von dort aus kann man dann ins Spezielle gehen und versuchen, den anderen zum Hinterfragen der eigenen Position zu bewegen“, erklärt Rausch.

Emotional sein, ohne sich im Gefühl zu verlieren

Aber besteht nicht die Gefahr, dass ich dann mit meiner trockenen, durchkonzipierten, ach-so-rationalen Argumentationstaktik vorm Supermarkteingang einfach gegen ein wütend-wohliges Bauchgefühl pralle? Und das Ganze wieder nur die überhebliche Geste einer weltfremden Akademiker-Naivität bleibt, die von einem grundsätzlich vernünftigen homo oeconomicus (der rein rational handelnde Mensch, ein theoretisches Modell – in der Realität agieren Menschen selten so) ausgeht, dem man die Fakten einfach nur klar aufzeigen muss, damit er sie einsieht? Was ja zum Beispiel auch oft als Clintons großer Fehler im US-Wahlkampf diagnostiziert wurde. Dabei liegt hier möglicherweise eine wichtige Herausforderung: emotional sein, ohne sich im Gefühl zu verlieren.

„Man muss manchmal auch bereit sein, Emotionalität mit Emotionalität zu bekämpfen. Emotionen sind an sich nichts Schmuddeliges in einer politischen Diskussion, solange sie auf Fakten fußen“, sagt Rausch.

Als Beispiel nennt er eine Diskussion von Gregor Gysi, die dieser mit Rechtspopulisten geführt hatte: Gysi einigte sich mit den Rechten darauf, dass es richtig sei, dass dem Staatshaushalt mehr Geld zur Verfügung stünde, wenn es keine Ausgaben für Asyl-Suchende gäbe, was ihm natürlich erst mal Beifall einbrachte. Von dort aus ging er weiter und erläuterte, dass aber nichts von diesem eingesparten Geld bei denen landen würde, die die eigene schlechte finanzielle Situation als Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen anführen, und sie sich den falschen Feind suchen würden. Die Absicht dahinter war, eine grundlegende Motivation zu finden und die davon ausgehenden negativen Emotionen umzulenken. (Hier das Interview, in dem Gysi die Geschichte erzählt, Minute 23:08.)

Eher das Gespräch suchen, als meiden

Was, wenn aber der ursprüngliche Grund gar keine Rolle mehr spielt und die Überzeugung an sich einen Eigenwert bekommen hat? Vielleicht hat mein Après-Einkauf-Debattiergegner seine Meinung ja schon so lange, dass sie schlichtweg Teil seiner Persönlichkeit geworden ist? Konsistenz, also die Beständigkeit des Selbst- und Weltbildes, ist schließlich einer der stärksten psychischen Motivationen. Es ist lästig, ständig bereit zum Umdenken zu sein, und viel angenehmer, sich klar zu definieren, sich eine feste Identität zu geben. Und um die wird dann eine Mauer aus Irrationalität gebaut, die von innen aber wie Vernunft aussieht.

Dann würde ich mich wohl eher zurückziehen, bevor meine Tiefkühlpizza schmilzt. „Wenn ich merke, dass mein Gegenüber so tief in seinem ideologischen Gebäude steckt, dass ich nicht mehr an ihn rankomme, dann darf ich nicht weiter versuchen, mit übersteigerter Empathie auf ihn einzureden, weil das dann zu Abwehrreaktionen, auch Gewalt, führen kann“, sagt Julia Wolrab, Autorin des Buches „Widersprechen, aber wie?“. „Dann geht es schlichtweg auch um meinen Selbstschutz.“

Wichtig beim Umgang mit rechtspopulistischen und generell Meinungen, die zu Ausschließlichkeit tendieren, ist also auch erst mal, die Grenze zu erkennen zwischen denen, die irgendwie erreichbar sind, und denen, die es nicht sind. Dabei hat man es in den seltensten Fällen mit wirklichen Fanatikern zu tun und sollte grundsätzlich eher das Gespräch suchen, als meiden, sagt Wolrab. „Wir sehen in unserer Gesellschaft gerade eine große Sprachlosigkeit. Jeder sitzt auf seinem Stuhl, verschränkt die Arme und sagt ‚Nein, ich hab aber recht!’“. Dabei sollte man vor allem im Alltag miteinander reden. Es geht dabei weder darum, seine eigenen Werte zu relativieren noch darum, den anderen von jetzt auf gleich zu missionieren. Die Botschaft sollte vielmehr sein ‚Ich grenze mich nicht von dir als Mensch ab, sondern von dem, was du sagst. Aber ich bin auch interessiert an deinen Gründen.’“

Bloß, woher weiß ich, dass nicht ich es bin, der sich eingemauert hat? Sicher sein kann man sich natürlich nie. Aber vielleicht ist ja gerade diese Frage, dieser Selbstzweifel eine Möglichkeit, diese Gefahr zu vermeiden. Vielleicht ist es eine der wichtigsten Fähigkeiten, die wir brauchen, die eigene Meinung immer wieder hinterfragen zu können? Nur so kann man zumindest annähernd sichergehen, dass sie nicht nur Selbstzweck ist. Und ich finde, es besteht immerhin ein bisschen Grund zur Hoffnung, dass sich am Ende diejenige Wahrheit durchsetzen wird, die keinen absoluten Anspruch darauf erhebt, eine zu sein.

Drei Tipps zum Diskutieren

Für die, die sich nicht darauf verlassen wollen, hier noch mal drei einfache Tipps vom Debattier-Profi Rausch:

  • Keine Labels verwenden.
  • Das Gespräch mit einer Frage beginnen.
  • Konkrete Antworten für solche Fälle im Vorhinein ausformulieren. (Weil sich Argumente oft wiederholen, z.B. „Die kommen nicht mit unserem Moralkodex klar.“)

Aber nicht vergessen: Es gibt sie nicht, die perfekte Argumentationstaktik, die eine Wort-Kombination, mit der man ein Überzeugung hacken, an der Hand nehmen und ins Licht der eigenen führen kann. Wichtiger als gedankliche Eroberung ist erst mal Annäherung. Soweit sie möglich ist. Ohne sie bleibt jede Diskussion eitle Selbstdarstellung und führt zu nichts.

Ich weiß wovon ich rede. Bei der Bauklötzchen-Geschichte habe ich einfach irgendwann rumgeheult und gesagt, dass ich nie wieder in den Kindergarten will. Aber ohne den geht es eben nicht. Wir müssen wohl oder übel alle im gleichen großen Kindergarten koexistieren. Das kann zwar manchmal schon die einzige Gemeinsamkeit sein, aber meistens gibt es mehr. Der Christoph und ich haben zum Beispiel irgendwann festgestellt, dass wir beide gerne Sand essen. Wir sind zwar keine Freunde geworden, aber uns zumindest halbwegs näher gekommen. Und ich bin mir ziemlich sicher, ihn irgendwann mal dabei gesehen zu haben, wie er einen Turm gebaut hat. Weil es halt auch einfach die verdammte Wahrheit ist, dass die besser sind! Oder? 

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