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Muss ich irgendetwas perfekt können?

Illustration: Katharina Bitzl

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Rat-tat-tat. Mit dieser Lautmalerei kam sie wieder. Meine Sehnsucht danach, etwas wirklich gut zu können. Ach, was heißt hier gut! Etwas perfekt zu können, in etwas exzellent zu sein. Nicht nur einen bloßen Nachahmer, sondern ein Vorbild abzugeben für all die anderen mittelmäßigen, bedauernswerten Kreaturen. In meinem Fall war es immer das Ziel: mit genialen Gitarren-Riffs die Welt erschüttern. Stattdessen jedoch bin ich seit jeher bloß eine ganz passable Musikerin. Ein reiner, aber fader C-Dur-Akkord, wenn man so will. Und diese Durchschnittlichkeit nagt bis heute an mir, wobei ich mich zur eigenen Beruhigung in besonders düsteren Momenten frage: Ist es denn wirklich so schlimm, nur mittelmäßig zu sein? Muss man versuchen, perfekt zu werden?

Auch Andreas Maier fehlte etwas zur Vollendung seines Gitarrenspiels: das oben erwähnte Rat-tat-tat. In einem Artikel für die Zeit schreibt der Schriftsteller über seine Liebe zur Musik. Dass er auf der Gitarre alles drauf habe, von Bach bis hin zu südamerikanischen Rhythmen. Nur eines sei ihm nicht gelungen: die schnelle Akkordfolge bei Wolf Biermann nachzumachen – ein deutscher Liedermacher, den Maier seit seiner Kindheit bewundert. Maier schreibt, dass er die meisten Lieder seines Vorbilds besser spielen könne als dieser selbst. Nur diese eine Technik, an der sei er immer gescheitert: "Manches bekam ich sowieso nicht in den Griff. Etwa dieses maschinengewehrartige Kastagnettengeklappere, diese blitzschnell hingeschossenen drei Töne: Rat-tat-tat! – ich wusste einfach nicht, wie er das macht." Weil er aber nicht aufgeben wollte, traf Maier ihn, sein Idol Wolf Biermann. Und einen Nachmittag lang musizierten die beiden.

In dem Artikel von Andreas Maier wird klar: Für ihn ist das Rat-tat-tat essenziell. Er will es unbedingt beherrschen. Um dadurch über sich hinauswachsen. Und um besser zu sein als all die anderen Nachahmer, die, wie Maier schreibt, Biermanns Lieder lediglich "klampften". Maier aber will: Perfektion. Zumindest Perfektion beim Biermann-Spiel.

Auch ich kenne diesen Ehrgeiz. Er erfasst mich jedes Mal, wenn ich auf ein Konzert gehe und die Musiker auf der Bühne ihren Instrumenten Töne entlocken, die meine Ohren und Finger in Ekstase versetzen. Die in mir den Wunsch wecken, sofort eine Gitarre in die Hand zu nehmen und das soeben Gehörte umzusetzen, nachzuleben, es mir vielleicht sogar einzuverleiben und in etwas Eigenes zu verwandeln. Doch mein eigenes Spiel ernüchtert mich. Und mit jedem gescheiterten Akkord nutzt sich meine Begeisterung ab. Bis davon nichts mehr übrig ist und meine Gitarre in der Ecke nicht mehr mich, sondern nur noch Staub anzieht. Was mir bleibt, ist die Erkenntnis: Scheiße, mein musikalisches Talent reicht nur zum Mittelmaß.

Aber ist das denn wirklich so dramatisch? Schließlich ist es nur ein Bruchteil der Menschheit, der sich hervortut. Sei es auf dem Gebiet der Wissenschaft oder der Kunst. Der Rest von uns ist – qua Definition: Mittelmaß.

Man kann daran verzweifeln. Sehr sogar. Aber man muss nicht. Mann kann den Anspruch auch nutzen. Wer davon träumt, so fantasievoll schreiben zu können wie Joanne K. Rowling, oder als Schauspieler so gut zu werden wie Anthony Hopkins, der muss das ja nicht unbedingt schaffen. Die Vorstellungen von dem, was gehen könnte, bringt uns doch schon dazu, weiter an uns zu arbeiten. Was ja sehr gut ist.

Denn selbst, wenn wir es nicht schaffen sollten: Schon allein, dass wir uns die Mühe machen und uns auf die Zehenspitzen stellen, lässt es doch erträglich werden, wenn wir mit unseren Fingern maximal das untere Ende der Perfektion streifen. Oder besser: Es hat trotzdem Wert. Ohne den Versuch wären wir schließlich überhaupt nicht besser geworden.

Maier hingegen streift nicht nur die Perfektion, er bekommt sie sogar zu packen. An dem Nachmittag mit Biermann sieht er das Rat-tat-tat aus nächster Nähe, begreift die Technik, die dahinter steckt. Und kann sie nachmachen. Womit er sein Ziel erreicht: Biermanns Lieder ohne Abstriche covern können. Mit Geduld, Übung und etwas Glück hat er seine Vorstellung von Perfektion erreicht.

Der Schriftsteller mag nun also die Lieder seines Helden fehlerfrei spielen können. Aber all die anderen Feinheiten und Superlative der (Musik)Welt, will ich allerdings gleich nachschieben, die kann er doch deswegen immer noch nicht.

Und vielleicht liegt genau darin der zweite Fehler: Dass ich meine Vorstellung von Perfektion nicht wie Maier abgesteckt habe. Wenn man auf einem zu großen Gebiet alles makellos nachmachen können will, muss man zwangsläufig scheitern. Denn das ist unmöglich. Sich aber nur ein bestimmtes Rat-tat-tat auszusuchen – das kann die Möglichkeit schaffen, Exzellenz zu erreichen. Und auf diesem kleinen Gebiet wenigstens ein bisschen – vielleicht aber sogar deutlich – besser als der Durchschnitt zu werden.

Seit ich von dem Erfolg Maiers gelesen habe, übe ich übrigens wieder viel öfter Gitarre. Von den vielen Songs, die ich gerne können würde, habe ich mir erst mal ein paar herausgesucht. Zwar wollen meine Finger noch nicht so, wie es das Original verlangt, aber es wird besser. Und wenn ich sie wirklich nicht zum makellosen Spiel bringen sollte, dann ist es eben so. Im schlimmsten Fall muss ich mir andere Perfektions-Vorstellungen abstecken. Und mit Geduld, Übung und etwas Glück gelingt es mir vielleicht, diese zu erreichen.

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