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Darf ich Freunde in der Krise fallenlassen?

Illustration: Daniela Rudolf

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Marie war eigentlich immer da. Ob Hausarrest, Herzschmerz oder Hochzeit: In den letzten zwanzig Jahren haben wir eine Menge zusammen durchgemacht. Mal war viel Kontakt, dann wieder wenig – doch immer war klar: Wenn was ist, können wir aufeinander zählen.

Dann war Marie auf einmal weg. Von heute auf morgen hat sie sich nicht mehr gemeldet. Anstelle ihrer Stimme am Telefon hörte ich nur die Mailbox, meine Nachrichten blieben unbeantwortet. Erst war ich beleidigt, dann habe ich mir Sorgen gemacht. Was, wenn sie in Schwierigkeiten steckte?

„In guten wie in schlechten Zeiten“ – dieser heilige Schwur gilt nicht nur für die Ehe, sondern eigentlich für alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Dass man sich gegenseitig hilft, war für mich immer Ehrensache, gerade, was die Freunde angeht. Denn die hatten schon immer den größten Stellenwert in meinem Leben. Soziologen haben herausgefunden, dass Freunde heutzutage oft die Familie ersetzen oder zumindest genauso wichtig sind. Mit dieser Wahlverwandtschaft geht aber auch einher, dass Hilfe aus mehr besteht, als ein paar Kisten beim Umzug zu schleppen. Es bedeutet, sich einander den Rücken zu stärken, wann immer es sein muss. Für den anderen zu kochen, wenn er mit Grippe im Bett liegt. Sich immer wieder die gleichen Klagen über den Chef anzuhören und eben auch da zu sein, wenn die Psyche einen im Stich lässt. Eigentlich alles eine Selbstverständlichkeit – dachte ich zumindest, bis Marie sich plötzlich wieder bei mir gemeldet hat. 

Da saß sie dann, mir gegenüber in der Küche, und sah eigentlich aus wie immer. Trotzdem war alles so anders. Sie wich meinen Fragen aus, sah mich kaum an. Nur langsam fand ich heraus, dass sie ihr Studium abgebrochen hatte, nur noch alleine zu Hause saß, an nichts mehr Interesse hatte. Sie steckte in einer schweren psychischen Krise. Schon während des Gesprächs hatte ich das Gefühl: Sie will nicht, dass ich ihr helfe. Ich komme nicht an sie ran. Als wir uns zum Abschied umarmten, sagte ich: „Schön war’s, lass uns doch noch mal treffen!“ Aber eigentlich meinte ich das nicht so. 

Das Treffen hat mich überfordert. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass ich mit psychischen Problemen in meinem Umfeld konfrontiert bin. Bisher habe ich dann immer geholfen, wie ich konnte. Aber darum weiß ich eben auch, wie anstrengend es ist, sich ständig kümmern zu müssen. Trotzdem: Marie und ich kennen uns doch schon so lange. Als gute Freundin wäre es doch meine Aufgabe, sie aus ihrem Loch zu holen – immerhin ist es oft Teil des Problems, dass psychisch labile Menschen Hilfe erst einmal ablehnen. Irgendwie würde es bestimmt klappen und das Treffen war doch schon mal ein guter Anfang. Aber irgendetwas in mir sträubt sich, denn ich weiß: Es wird ein hartes Stück Arbeit. Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich diese Verantwortung nicht übernehmen will?

Durch großzügige Hilfe bringt man ein Ungleichgewicht in die Freundschaft

Das Problem mit Freundschaften ist: Sie sind ein freiwilliger Bund. Was genau eine gute Freundschaft ausmacht, sei eine subjektive Frage, erklärt mir der Psychologe und Freundschaftsforscher Horst Heidbrink – es gibt keine Verpflichtungen, die für alle gelten. Trotzdem gibt es eine Art Faustregel: „Freundschaften beruhen immer auf gegenseitigem Geben und Nehmen. Wenn man sich entscheidet, wie man für den Freund da sein möchte, zieht man quasi automatisch eine Bilanz der gemeinsamen Freundschaftsgeschichte“, sagt er. 

Hört sich ziemlich ernüchternd an, finde ich. Freundschaften sollten doch eigentlich nicht kalkulierbar sein. Aus psychologischer Perspektive hat diese Art von Bilanzierung der Beziehung aber für beide Seiten einen Sinn. „Natürlich gibt es gute Gründe, jemandem zu helfen. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass man durch großzügige Hilfe auch ein Ungleichgewicht in die Freundschaft bringt“, sagt Dr. Heidbrink. Derjenige, der die Hilfe bekommt, fühle sich häufig gezwungen, das später ausgleichen zu müssen. „Wenn ich überlege, wie es mit einer Freundschaft weitergehen soll, sollte ich mir immer überlegen, ob das Geben und Nehmen einigermaßen ausbalanciert ist“, rät der Freundschafts-Experte deshalb. 

Tatsächlich fällt mir auf, dass Marie sich in den letzten Jahren nur wenig emotional an meinem Leben beteiligt hat. Den Kontakt habe eher ich gepflegt, Treffen sind meist auf meinen Vorschlag zu Stande gekommen. Aber ist das ein Grund, eine Freundin in der Krise einfach fallen zu lassen? Die rationale Antwort auf diese Frage lautet wohl: ja. Wer sich selbstlos für jemanden aufopfert, der das Gleiche nicht für einen selbst tun würde, macht sich damit kaputt. Man kann das Selbstschutz nennen – oder Egoismus. 

Dieses „Ich oder Du“ ist aber keine einfache Entscheidung, schließlich ist mir Marie nicht egal. Es fühlt sich falsch an, etwas so Emotionales so kühl zu berechnen. Darum ist es am Ende auch eher eine andere Aussage von Horst Heidbrink, die mir das Loslassen erleichtert: „Man kann niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will.“ 

Ich habe Marie nicht mehr angerufen, ihr keine Hilfe angeboten. Marie, die immer da war, ist jetzt also nicht mehr da. Ob sie wiederkommen wird, weiß ich nicht. In manchen Nächten träume ich von ihr: Wir streiten uns, sie ist enttäuscht, ich weine. Ein richtiges Ende gibt es in diesen Träumen nie. Wenn ich aufwache, fühle ich mich wahnsinnig schlecht. Da kann ich mir noch so oft einreden, dass ich sie nicht retten kann: Es lenkt nicht ab von der Tatsache, dass ich sie habe fallen lassen – und dabei auch ein großer Teil von mir mitgefallen ist. 

Freundschaft ist nicht immer leicht – aber hier gibt es Tipps und Gedanken dazu:

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