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Wenn zwei sich streiten

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SEBASTIAN

Mein einprägsamstes Erlebnis zum Thema Streit war ein Gespräch, das ich im Alter von vielleicht zehn Jahren belauschte. Ein mit meinen Eltern befreundetes Ehepaar gab damit an, dass es sich noch nie gestritten habe, denn es sei ständig einer Meinung. Zwei Monate später lebte das Paar in Scheidung und der kleine Sebi hatte sich eine unauslöschliche Weisheit auf die Innenseite seines Gehirns tätowiert: Regelmäßiges Streiten schützt vor Trennung.  

Wenn man sich Nadines und mein Streitverhalten so ansieht, merkt man schnell, dass diese früh gelernte Regel von uns treu sorgend befolgt und sauber kultiviert wird. Schon seit unseren ersten Annäherungsversuchen ist unser Verhältnis von Auseinandersetzungen geprägt, die es in sich haben. Nadine hat als Hauptgrund dafür stets meine "kalte, herzlose Art, die nichts kennt als Prinzipien und Dogmen" genannt, während ich Nadine dann immer schlicht als "Hysterikerin" bezeichnen habe, was nicht selten zu Tränen, gepackten Koffern und diversen geknallten Türen geführt hat.  

Sperrt man solche Charaktere zusammen in eine Wohnung, dann geht es bisweilen zu wie im Affenhaus. Und plötzlich sieht man sich in dieser neuen Situation damit konfrontiert, dass Verhaltensweisen, die man sich über Jahre der Fernbeziehung angeeignet und (nach Wirkungsgrad sortiert) stets griffbereit hatte, jetzt wirkungslos sind.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Zum Beispiel meine liebste Waffe, das Auflegen: Da Nadine als heißer Konflikttyp im Streitfall stets Reibung und Gegenwehr braucht (und im Grunde tiefe Verlassensängste kompensiert) kann ich als kalter Konflikttyp (dem Streit im Allgemeinen zu anstrengend ist) die Kontrolle durch einen ganz einfachen Mechanismus zurückgewinnen: indem ich das Telefon auflege, durch das gerade ein Wirbelwind tobt. Und je nach gewünschtem Wirkungsgrad kann man einfach die nächsten fünf, zehn oder 15 Minuten nicht mehr rangehen, während es ohne Unterlass klingelt. Weißglut beim Kontrahenten garantiert! "Sorry, war gerade in einem Funkloch!"  

Oder mein zweiter lieb gewonnener Trick: das Einschlafen. Während Nadine mir am Telefon mal wieder so richtig die Kopfhaut wäscht, einfach langsam die Äuglein schließen und mich von den wogenden Worten ins Traumland tragen lassen. Sorgt garantiert für gute Stimmung auf der anderen Seite - aber erst am nächsten Morgen. "Sorry, der Streit hat mich sehr erschöpft, mein geschundener Körper hat nach einer Pause verlangt!"  

So etwas fällt in einer gemeinsamen Wohnung natürlich schwerer. Einfacher Rückzug ist kaum möglich, schon steht Nadine mir wieder auf den Füßen. Es bleibt nur die Flucht aufs Klo (stinkt) oder vor die Tür (kalt), beides keine einladenden Alternativen und beide nicht von Dauer (es sei denn man hat vorher wissend ein gutes Buch auf dem Lokus/in der Pinie versteckt). Will ich mal geflissentlich einen Streit durch vorzeitiges Einschlafen beenden, schon rüttelt Nadine mich an der Schulter und erwartet sofortige Wiederaufnahme der Kampfhandlungen.  

Irgendwann wurde mir bewusst, dass Nadine es eigentlich nur sehr gut mit mir meinen konnte, mit den ständigen Streits und Konflikten versuchte sie mich auf die Härte des Lebens einzustimmen. Um nicht länger wie ein zierliches Fähnchen im Windstoß der öffentlichen Meinung umher getrieben zu werden, sondern für die eigene Meinung einstehen zu können wie ein Baum! Und da mein Lernpotential im Fernstudium per Telefon natürlich irgendwann ausgeschöpft war, wurde eine zweite Phase, quasi ein Fortgeschrittenenkurs für Überlebenswillige der Informations- und Diskursgesellschaft nötig. Und ich lerne eifrig. 

Auf der nächsten Seite: die streitlustige Replik von Nadine.


NADINE

Sebi und seine Theorien.  

Angefangen hat alles damit, dass er ein Ehrenamt beim Zuhörtelefon "Nightline" übernahm und ich eines bei der Telefonseelsorge. Während die anderen Ehrenamtler und ich uns in Berlin turbulente Nächte um die Ohren schlugen, in denen das Telefon nie still stand, blieb Sebi beim Zuhörtelefon etwas mehr Zeit für die psychologische Theorie.  

Anstatt einen richtig guten Streit mit mir auszufechten, fängt Sebi deshalb ständig damit an, uns nach Streittypen zu kategorisieren, und versucht, bei mir die Gesprächstheorie nach Carl Rogers anzuwenden – die darin besteht, dass er alles, was ich gerade gesagt habe, einfach noch mal wiederholt, "um es mir zu spiegeln". Danke!  

Solche Streitpartner kann ich nicht gebrauchen! Ich will Streitpartner mit Emotionen und einem messerscharfen Verstand! Meine Streits sind wie meine Erörterungs-Aufsätze in der Mittelstufe, für die ich immer eine Eins bekam: Die Argumente sind gut beobachtet und differenziert, sie steigern sich rhetorisch und emotional, und am Höhepunkt, wenn der Gegner schon wankt, brauche ich nur noch einige wenige Worte fürs Schach Matt. Sebis fragwürdige Streit-Strategie verhindert leider in den meisten Fällen, dass der Streit überhaupt bis zu diesem Punkt kommt. Weil er vor der Auseinandersetzung flüchtet, kann sich nichts verändern, entwickeln, verbessern; die ganze Energie verpufft. Wenn ich mit Sebi streite, fühle ich mich manchmal wie ein Schulkind, das von seiner Psychologinnen-Mutter analysiert wird. Aber für mich ist ein Streit eine Herausforderung, ein Spiel. Einer der Momente, in dem man die Meta-Ebene mal Meta-Ebene sein lassen kann und einfach da ist – genau deshalb endet Streit doch auch so oft im Sex.  

Ob man ein heißer oder kalter Streittyp ist, entscheidet sich laut Sebis Psychologiebuch in der Beantwortung einer einzigen Frage: "Hast du in einem Telefonat schon mal einfach aufgelegt?"

"Ja." = kalt/Sebi
"Nein – und ich würde das auch niemals tun." = heiß/Nadine

In unserer Fernbeziehung hatte sich diesen Kategorien entsprechend schon eine Streit-Dramaturgie eingependelt: Wir streiten – Sebi legt auf. Ich rufe zurück – er geht nicht ran. Ich rufe noch mal zurück – er geht wieder nicht ran. Allein in meinem Zimmer bin ich traurig und denke nach. Als Sebi nach 15 Minuten zurückruft, freue ich mich so, dass ich mich aus Versehen entschuldige. Später ärgere ich mich, denn eigentlich hatte ich Recht.

Deshalb hat sich für mich die Situation durch das Zusammenziehen eindeutig verbessert! Seitdem bin ich mit den Streits nicht mehr alleine. Vielleicht streiten wir erst im Wohnzimmer, dann im Flur und später in der Küche. Aber niemand legt einfach auf.

Gleichzeitig sind die Streits auch kurz und pointiert, wie ich es mag. Denn zumindest am Abend geht man ja wieder im gleichen Zimmer schlafen. Wenn wirklich mal einer im Wohnzimmer übernachtet, käme das schon einer regelrechten Feindschaft gleich. Die kann keiner wollen!  

Und dann ist da noch etwas, ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Das soll jetzt nicht so klingen wie die Ehefrau, die sich für ihren Mann mit Bierwampe auch nicht mehr die Haare wäscht. Aber inzwischen haben wir einfach eine gute Streitfrequenz (circa alle drei Wochen), gute Themen (Kriegsfilme, Gender) und gute Versöhnungsrituale (Spazierengehen, Adventskalender öffnen) gefunden. So schnell wird wegen eines Streits also keiner von uns die Koffer packen – zumindest nicht, um wirklich auszuziehen! 

nadine-gottmann


Text: sebastian-hilger - und nadine-gottmann; Illustrationen: Yinfinity

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