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12. Dezember

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Pappkarton und Alufolie

Meine Mutter nähte mir aus weißem Laken ein Engelskostüm. Dazu bekam ich einen silbernen Stern auf den Kopf. Den habe ich selbst gebastelt. Ich nahm ein Stück Pappe, malte mit Mutters Hilfe einen ca. 10 cm großen Stern auf, schnitt diesen aus und beklebte ihn mit Alufolie. Ein weiteres Stück Pappe musste für die Sternhalterung dran glauben. Als auch diese mit Alufolie beklebt war wurde Stern und Sternhalterung geleimt und für den besseren Halt nochmals mit Alufolie umwickelt.
Als letzter Arbeitsschritt schnitt ich ein Stück Schlüpfergummi ab, lochte meine Sternhalterung an beiden Enden, zog den Gummi durch und befestigte ihn an beiden Seiten mit einem Knoten. Mein Engelsstern war fertig.

Auch für die für Engel notwendige weiße Kerze, die den ganzen Gottesdienst durch brennen würde, bastelte ich mir eine Kerzenhalterung. Auch hier waren mir Pappe und Alufolie dienlich. Unter das Bettlakenkostüm, welches mit einer Paketschnur am Bauch gebunden war, zog ich Strumpfhosen, Jeans, ein T-Shirt, einen dünnen Pullover und einen weiteren aus Schafwolle. Obwohl die Kirchenhausmeisterin schon in der Früh den Kachelofen feuerte, war es in der Kirche immer recht kalt.

Nur wenn mensch ganz dicht am Ofen stand, war es wohlig warm. Dieses Glück hatte ich nicht. Ich stand auf der anderen Seite der Kirche. Mit meiner Kostümierung und meiner Angst, den Text zu vergessen. Zu meiner Rechten thronte der Tannenbaum, der prächtig geschmückt war und auf dem echte Kerzen brannten. Zu meiner Linken wackelte Engel Franziska, meine Schulfreundin. Ebenfalls in Laken und mit Stern auf dem Kopf. Das Krippenspiel begann. Und ich war wie immer dabei.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie es war in dieser Kirche zu stehen. Auf den Stufen zum Altar, den Blick in den abgedunkelten Raum. Ich konnte nur erahnen, wo meine Eltern saßen, meine Großeltern, die vielen Tanten und Onkel. Ich war stolz darauf, meinen Text fließend aufzusagen. Laut und deutlich, wie es mir der Pfarrer beigebracht hatte. Und dann am Ende des Gottesdienstes spielte die Orgel „Stille Nacht, heilige Nacht“ und alle sangen mit. Das war mein persönlicher Höhepunkt. Ich bekam eine Gänsehaut, weil ich mich so freute. Es war ein unglaubliches Gefühl. Ich war euphorisch. Ich sang laut und strahlte. Inmitten dieser Menschen zu sein, die gemeinsam da saßen und sangen, machte mich glücklich. Keine Geschenke waren in diesen Minuten wichtig, kein Wunschzettel, der geschrieben und an den Weihnachtsmann verschickt wurde.

Heute habe ich dieses Gefühl verloren. Ich gehe immer noch an Weihnachten in die Kirche. Aber da sitzen nicht mehr ganz so viele Tanten und Onkel und Oma und Opa sind ebenfalls nicht mehr da. Da stehe ich nicht mehr auf den Altarstufen mit meinem Engelskostüm. Stattdessen sitze ich in der Reihe und friere. Und wenn dann „Stille Nacht, heilige Nacht“ angesagt wird, fühle ich ein Stechen im Herz. Ich weiß, dass es nicht mehr „mein“ Lied ist. Ich singe mit und werde mit jeder Strophe trauriger. Wenn ich danach aus der Kirche gehe, wird da Glühwein verkauft und ich genehmige mir einen. Und einen Nächsten. Und einen Übernächsten. Ich suche nach Franziska und treffe ihre Mutter, die mir sagt, dass Franziska dieses Jahr nicht kommen konnte. Die Arbeit. Ja, natürlich.


Und wenn dann die Kirche ganz leer ist, gehe ich nochmal rein, beschwipst, weil mir Glühwein immer sofort in den Kopf steigt. Ich laufe den langen Gang vor zum Altar und stelle mich auf die Stufen. Neben den Tannenbaum, der bis auf ein paar einzelne Kugeln keinerlei Schmuck trägt. Von dort aus schaue ich in den Raum und bin bereit mich meiner Weihnachtsmelancholie vollends hinzugeben. Wenn da nicht dieser kleine Junge wäre, der auf einmal auf mich zugelaufen kommt. In einem Engelskostüm, aus weißem Laken und einem Stern auf dem Kopf. Einem glänzenden Stern aus Pappe und Alufolie. Er hat mich schon gesucht, sagt er, und seine Augen leuchten.

Dieser Text stammt von jetzt-Userin Frau_Wald .

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