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Was ist so verkehrt an modeinteressierten Jungs?

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Zsszing. Plonck. Der erste Stein trifft das Metallgeländer vor uns. Der Zweite den rechten Reebok-High-Top meiner männlichen Begleitung. Da, wo das Polster die Achillessehne schützt. Unsere Köpfe schnellen rücklings – die der 11 bis 14-Jährigen tauchen hinter einem Kastenwagen ab. Röhrenjeans und klobige weiße Turnschuhe: Wo liegt das Problem? Was macht diese Jungs wütend?

„There is something about fashion that makes people really nervous," sagt Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, zu Beginn des Dokumentarfilms The September Issue. Sie beschreibt eine Verunsicherung. Die besonders groß scheint, wenn Mode am Mann stattfindet. Wie Mick Jagger und Keith Richards 1968 in pinken Lederstiefeln oder rosanen Hosen vor die Tür treten? Das trauen sich nur die wenigsten. Die Kritiker sind streng und kommen meist aus der eigenen Generation. Der kleine Bruder in gelackten Halbschuhen? Der Freund in schwarzer Lederjacke mit aufwendig zu faltendem Schalkragen? Da gefriert das Lächeln in Sekundenschnelle. Die Schubladen sind ausgeräumt: Der modebewusste Mann ist nicht mehr CDU-Spross oder Punk, Emo, Indie-Rocker oder Drag-Queen.

Während modeinteressierte Männer früher verdächtigt wurden, ihre Zeit auf vermeintlich weibliche Tätigkeiten zu verschwenden und damit ihre Männlichkeit zu untergraben, verwischen die Grenzen der geschlechtlichen Zuständigkeiten heute täglich. Der Kleiderschrank steht offen. Für alle. Seitdem sie nicht mehr nur seine T-Shirts ausbeult, sondern er auch ihre Jeans, ist männliches Modebewusstsein eine Herausforderung. Für ihn, der sich seiner selbst modisch gewiss werden möchte. Ebenso wie für sie, die ihn attraktiv finden will. Und am meisten ärgern sich die Frauen.

Letztens tanzte ein Mann in schwarzem Plissee-Rock und mit selbstgebasteltem Holzobjekt am rechten Oberarm. In den Reaktionen der Umtanzenden mischte sich Bewunderung mit fingerzeigender Häme. Die bösen Blicke bekam er von Mädchen. Wieso gönnten sie ihm das bisschen Freiheit zwischen den Beinen nicht? Seit Jean-Paul Gaultier 1985 versuchte, den Rock für den Mann zu rehabilitieren, ist er von den Laufstegen nicht mehr wegzudenken. Auf die Straße hat er es bisher kaum geschafft. Während Väter es nicht mehr erstaunlich finden, dass die T-Shirts ihrer Söhne ebenso tief ausgeschnitten sind wie die der Töchter. Sie kugeln dann demonstrativ die Augen und assoziieren es im schlimmsten Fall mit ihnen bekannten Persönlichkeiten wie Christiano Ronaldo. Und während Kumpels es amüsant finden oder arrogant unter „Karneval" verbuchen, rupfen wir Mädchen den Hahn lieber schnell, bevor er mit modemut-geschwellter Brust das Haus verlassen kann.

Vielleicht fühlen wir uns um unsere modische Deutungshoheit betrogen. Vielleicht fürchten wir uns vor Konkurrenz im Kampf um die Aufmerksamkeit. Vielleicht kratzt es an beziehungsinternen Machtverhältnissen, wenn der Partner sich durch stilistische Experimente angreifbar macht. Vielleicht haben wir Angst vor dem Rollentausch, der schon lange selbstverständlich sein sollte: Nicht mehr die Prinzessin auf der Erbse sein zu können, die zehn Minuten vor Abfahrt und mit melodramatischem Pathos auf einem Bein durch eine Was-soll-ich-anziehen-Krise hüpft. Stattdessen diejenige zu sein, die auf der Bettkante sitzt, entnervt zuschaut und mit dem Zeigefinger auf die Armbanduhr tippt. Es scheint als wolle der Mann kein schweigender, graumelierter Wolf mehr sein und die Frau nicht mehr die einzige, die emotional was zu sagen hat oder modisch den Mund aufmacht.

Vom Philosophen Paul Watzlawick stammt das Zitat: „Man kann nicht nicht kommunizieren." Der Mensch spricht auch ohne Sprache – durch Mimik, Gestik und das äußere Erscheinungsbild.

Vielleicht sollten wir dafür öfters „ich hab mein Schlaf-Shirt angelassen" oder „Hauptsache bequem" sagen. 

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