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Wenn die Kollegen über das Gehalt bestimmen

Foto: Wigwam

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Bei einem Betriebsausflug der Berliner Agentur Wigwam stellte plötzlich ein Mitarbeiter die Frage, die alles veränderte: „Was würde eigentlich passieren, wenn jeder für sich entscheidet, wie viel er verdienen will?“ Das Team war an einen See in Brandenburg gefahren, um über Geld zu sprechen, genauer gesagt: über den Lohn der 21 Mitarbeiter.

Die Sonne schien, die Stimmung war gut, doch die Diskussion zog sich wie Kaugummi. Ein Modulsystem war im Gespräch, aber auf verbindliche Kriterien konnte man sich nicht einigen. Ein Einheitsgehalt? Fanden die meisten dann auch nicht fair. Immer wieder scheiterte die Konsensfindung an Einzelfällen, an ein paar Euro. Hier ging es nicht nur um Geld, sondern um Fragen wie: Welche Arbeit ist wie viel wert? Und welchen Sinn hat Entlohnung überhaupt?

Bei Wigwam entschied man sich dazu, einfach loszulassen: keine allgemeingültigen Regeln aufzustellen und die Verantwortung den Mitarbeiterinnen selbst zu übertragen, es zumindest einmal auszuprobieren. Das Ergebnis war allgemeine Euphorie. „Ganz spontan haben alle einen vierstelligen Betrag auf einen Zettel geschrieben“, erzählt Wera Stein, damals Aufsichtsratsvorsitzende von Wigwam. Diese Freiheit war für die meisten aber erst mal ungewohnt: „Plötzlich stand man da vor ganz neuen Fragen: Was trau ich mich zu verlangen? Wie viel darf ich?“

Zusammengerechnet waren die Gehaltsvorstellungen der Wigwam-Mitarbeiter erstaunlich nah am vorhandenen Jahresbudget für Personalkosten. Das mag überraschen, hängt aber damit zusammen, dass Wigwam eine Genossenschaft ist. Alle Arbeitnehmer sind gleichzeitig Arbeitgeber und können als solche frei über das gemeinsame Budget verfügen. Diese Macht bringe aber auch die Verantwortung mit sich, beide Perspektiven einnehmen zu müssen, sagt Wera Stein: „Als Arbeitgeberin muss man sich fragen: Wie viel Geld können wir überhaupt verteilen? Und wie können wir diesen Betrag erhöhen? Als Arbeitnehmer: Wie viel brauche ich, um zufrieden zu sein?“

„Die Leute haben gesagt: Ihr wollt uns bewerten? Ihr wisst ja gar nicht, was wir machen!“

Die Agentur Wigwam ist nicht der einzige Betrieb, in dem die Mitarbeiter in Gehaltsfragen mitentscheiden. Das funktioniert nicht immer so konsensdemokratisch wie bei Wigwam, hat aber im Prinzip denselben Anspruch: betriebliche Entlohnung so zu gestalten, dass sie von den Beschäftigten als fair wahrgenommen wird. Gerechtigkeit wird damit individuelle Ermessens- und Empfindungssache: „Fairness ist gefühlte Gerechtigkeit“, schreiben Sven Franke, Stefanie Hornung und Nadine Nobile in ihrem kürzlich im Haufe-Verlag erschienenen Buch „New Pay – Alternative Arbeits- und Entlohnungsmodelle“.

Von der Bewertung durch Kollegen über kollektive Lohnentscheidungen und selbstgewählte Gehaltsentscheider bis hin zur freien Vergütungswahl reichen diese Modelle. Klassische Institutionen wie Gehaltsverhandlungen, Zielvereinbarungen und gewerkschaftliche Tarifverhandlungen verlieren damit an Bedeutung.

Die neuen Gehaltsmodelle sind auch eine Reaktion auf veränderte Anforderungen der Arbeitswelt, vor allem in der IT- und der Kreativbranche. Dass dort die Arbeitsbeziehungen eher dezentral, selbstorganisiert und möglichst hierarchiefrei strukturiert sind, hängt mit dem Tempo und der Komplexität ihres technologischen und wirtschaftlichen Umfelds zusammen. Dort kann kein Chef der Welt den vollen Überblick über alle Prozesse und Problemstellungen haben, mit denen seine Mitarbeiter gerade beschäftigt sind. Erfolgreiche Führung bedeutet dann auch: loslassen können.

Das gilt auch für Lohnfragen. Wenn ein Chef die Leistung eines Mitarbeiters in einem selbstorganisierten Team bewerten soll, kommt er schnell an seine Grenzen. So ging es jedenfalls Joachim Seibert, Geschäftsführer von Seibert Media, einer Wiesbadener IT-Firma. „Die Leute haben gesagt: Ihr wollt uns bewerten? Ihr wisst ja gar nicht, was wir machen!“ Bei Seibert wurden deshalb die „Gehaltschecker“ eingeführt, ein demokratisch gewähltes Mitarbeitergremium, das im Streitfall über Gehaltserhöhungen entscheidet.

„Ich glaube nicht, dass es möglich ist, Leistung objektiv zu bewerten.“

Nadine Nobile, Mitautorin des Buchs „New Pay“, sieht einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Dezentralisierung und partizipativen Lohnmodellen: „Wer selbstorganisierte Teams etabliert und Entscheidungskompetenzen delegiert, wird sich früher oder später die Frage stellen müssen, welche Konsequenzen das für die Bestimmung und Entwicklung von Gehältern hat.“

Diese Frage wird umso komplizierter, je mehr man sich auf die Forderung einlässt, dass Lohn auch den Wert der Arbeit widerspiegeln soll. Hier zeigt sich ein Dilemma: Gesellschaftlich wichtige und anerkannte Arbeit ist oft unterbezahlt, während man mit gesellschaftsschädigenden Praktiken reich werden kann. An welchen Regeln, welchen Werten soll man sich also orientieren, wenn man versuchen will, Entlohnung besser und fairer zu machen?

Die Wigwam-Belegschaft umging das Problem, Arbeit allgemeingültig bewerten und vergleichen zu müssen, indem sie die Entlohnung nicht am Erfolg, an der Leistung oder am Wert der Arbeit festmachte. Stattdessen orientierten sie sich beim Wunschgehalt an individueller Zufriedenheit. „Das Ziel war: Alle sollten mit ihrem Lohn zufrieden sein und darin die Dinge berücksichtigen, die ihnen wichtig sind“, sagt Wera Stein. So schön man diesen Ansatz finden mag, er zeigt auch, wo der Schuh eigentlich drückt: Die Frage nach einem allgemeingültigen Wert der Arbeit ist so problematisch, dass sie auf betrieblicher Ebene nicht gelöst, sondern nur umgangen werden kann.

Zumal auch andere Firmen versuchen, dieser Frage mit Kunstgriffen beizukommen. Die Hamburger PR-Agentur Ministry Group hat ebenfalls ein neues Gehaltsmodell eingeführt. Dort wirken Kollegen an der Festlegung von leistungsabhängigen Gehaltskomponenten mit. Einer objektiven Leistungsbewertung will man jedoch auch bei Ministry aus dem Weg gehen. Chef David Cummins sagt offen: „Ich glaube nicht, dass es möglich ist, Leistung objektiv zu bewerten. Wir müssen zu einer Trennung von Entlohnung und Bewertung kommen.“ Die Umsetzung dieser Idee besteht bei Ministry allerdings nur darin, Teammitglieder in die gehaltsrelevante Bewertung einzubeziehen und diese vom Feedback zu trennen. Die Bewertung der Leistung wirkt sich also weiterhin auf das Gehalt aus - sie vollzieht sich jetzt nur hinter geschlossenen Türen.

An diesem Beispiel kann man sehen, dass Versuche, Lohnmodelle fairer zu gestalten mit einem Widerspruch konfrontiert sind. Einerseits ist es in einer Marktwirtschaft schwer, ein allgemeingültiges Urteil über faire Entlohnung zu treffen, besonders im IT- und Kreativsektor, wo übliche Standards häufig nicht gelten. Andererseits ist es auch schwer, auf die Idee einer leistungsgerechten Entlohnung zu verzichten, wenn man deren Anreizfunktion nicht aufgeben will. Betriebe, die unter diesen Bedingungen ihre Entlohnung fairer gestalten wollen, lassen sich also auf ein Problem ein, dessen Lösung nur teilweise in ihrer Macht steht.

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