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Auf dem Banana Pancake Pfad 19: Die armen Kinder von Granada

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Das mit dem Elend auf Reisen ist scheiße. Diese ganze Armut um einen herum, die Bettler mit ihrem Stümpfen, die Kinder mit den großen Augen, die alten Frauen mit ihren Tumoren, all das kann wirklich schlechte Laune machen. "Ich hasse Arme", sagte John, der Holländer, und wir stießen unsere Heineken-Flaschen aneinander. Wir hatten Huhn und Reis mit Bohnen bestellt. Reis mit Bohnen kann man in Mittelamerika übrigens nicht entkommen. Es gibt immer ihn, zu jedem Essen, als Standardsättigungsbeilage. In Nicaragua nennen sie das Zeug „Gallo Pinto“, was so viel wie „gefleckter Hahn“ bedeutet. Es ist ein Arme-Leute-Essen, das sich jeder leisten kann. Auf jeden Fall gibt es nach spätestens zwei Wochen Mittelamerika nichts, was langweiliger schmeckt als Reis mit Bohnen. Immerhin hatten wir auch zwei gegrillte Hühner bestellt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

John und ich saßen in einem Restaurant in der Stadt Granada. Die Wände waren wie in Kuba-Hemmingway-Filmen türkis gestrichen, ein Deckenventilator pflügte die heiße Luft und den drei Kellnern (die Lohnnebenkosten in Nicaragua sind sehr niedrig) fehlten zwischen einem und drei Schneidezähne. Auf dem Weg dorthin waren wir von einer Gruppe kleiner Kinder angebettelt worden, eine Art Bande verlauster, kleiner Latino-Bengel und zwei älteren Alkoholikern. John sagte, Nicaragua sei ein gutes Land, aber diese Bettler können einem den ganzen Aufenthalt vermiesen. Ich sagte: „Kindern gebe ich nichts. Weil, wenn man ihnen was gibt, gehen sie nicht mehr in die Schule.“ John sagte: „Männern gebe ich nichts. Die versaufen das alles nur.“ Ich sagte: „Was ich nicht ausstehen kann, ist, wenn mich jemand beim Essen anbettelt. So jemand gebe ich nichts.“ John sagte: „Ich hasse es, wenn sie mich anfassen und versuchen, mich festzuhalten. Das macht mich wirklich aggressiv, wenn jemand an meinen Sachen herumzerrt.“ Ich sagte: „Leuten mit Behinderung sollte man auch nichts geben. Da stecken oft Banden dahinter, die die Leute mit Absicht verkrüppelt haben. So wie in Slumdog Millionaire!“ John sagte: „Gestern hat mich eine Mutter mit Baby angebettelt. Die hat jedem Tourist ihr Baby ins Gesicht gehalten. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man sein Elend so zu Schau stellt.“ Zwei grinsende Kellner mit wenigen Schneidezähnen kamen und brachten zwei gegrillte Hühner und einen gewaltigen Berg Gallo Pinto sowie zwei Bier und berechneten dafür vier US-Dollar. Das mit dem Elend in den Ländern des Banana-Pancake-Pfades ist ein Kreuz. Leider geht ein niedriges Preisniveau fast immer mit einer sehr hohen Armutsquote einher. In Südamerika, Mittelamerika, in Marokko, in Südostasien, in Indien – überall dort, wo man als Westler für 20 Euro am Tag wie ein kleiner König leben kann, wimmelt es von Bettlern, die sich auf weiße Touristen spezialisiert haben. Am schlimmsten ist es in Indien, weil Bettler in Indien eine eigene Kaste sind. Und wenn jemand in eine Bettel-Kaste hineingeboren wird, denken die Inder, muss er halt ein guter Bettler sein, dann wird im nächsten Leben schon als Ingenieur wiedergeboren. In Indien ist das Elend am gleichgültigsten. Oft sind Bettler organisiert und müssen den Großteil ihrer Almosen an einen Bandenboss abgeben. Oft stellen sie ihr Elend zur Schau und schicken ihre Kinder zum Betteln anstatt in die Schule. Trotzdem ist jedes Angebetteltwerden immer wieder eine Mensch-zu-Mensch-Begegnung. Jedesmal sagt ein Mensch zum anderen: Mir geht es schlecht, bitte hilf mir. Und jeder, dessen Herz nicht aus Plastik ist, möchte sagen: Mir geht es gut, ich kann nicht einmal etwas dafür, dass es mir gut geht, ich will dir helfen. Das ist die normale Reaktion zwischen Menschen. Aber das hält kein Mensch im Kopf aus, wenn er Anfang 20 ist, vor allem Frauen und Bier im Kopf hat und jeden Tag 38 Mal von Kleinkindern, Kriegsversehrten und Alkoholikern angebettelt wird. Der einfachste Ausweg in Richtung Selbstschutz heißt: Zynismus. Mit Zynismus lässt sich eigentlich fast alles ertragen. Aber Zynismus ist immer auch nur ein paar Zentimeter vom Arschlochsein entfernt. Ich sagte: „Das ganze Elend geht mir genauso auf den Sack wie dieser Reis mit Bohnen.“ Und John sagte dann etwas, was nach diesem Marie-Antoinette-Satz klang, von wegen, dann sollen sie eben Kuchen essen. Dann passierte etwas Eigenartiges und ich weiß bis heute nicht, ob es zynisch, arschig oder einfach nur normal war. Ein kleiner, dreckiger Junge lugte in das Restaurant hinein. Vorsichtig, ängstlich, neugierig. Er sah, dass wir Huhn und Reis mit Bohnen aßen. Sofort lief der Kellner ohne Zahn zur Tür und schrie den Jungen auf Spanisch an. Der Junge lief weg, aber schon nach ein paar Minuten war er wieder da. John riss das Bein seines Huhnes ab und deutete dem Jungen es zu nehmen. Der Junge zögerte, zauderte, blickte nach dem Kellner und dann rannte er zu John, griff das Hühnerbein. Noch während er wieder ins Freie rannte, hatte er zu essen begonnen. Jetzt kamen zwei, drei Kinder und grinsten durch die Tür. Ich riss den Flügel meines Huhns ab und bot es ihnen an. Sie flitzten zu unseren Tisch, nahmen das Essen und flüchteten, so schnell sie konnten. Dann kam der Junge von vorhin wieder, dann drei andere Kinder, dann fünf, dann neun. Sie standen um unseren Tisch herum, kicherten, bettelten, quasselten und lachten und John und ich verteilten den das Fleisch und den langweiligen Reis mit Bohnen. Die drei Kellner ohne Schneidezähne rannten schimpfend herbei, aber die Kinder waren in der Überzahl und erst nachdem unsere Teller leer waren, gelang es den Kellnern, sie aus dem Restaurant zu vertreiben. Wir fühlten uns gut danach und die verlausten Kinder auch.

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