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"Jede Revolution beginnt mit einem Auflauf."

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Angela Merkel hat es auf dem Integrationsgipfel auf den Punkt gebracht: Einwanderer sind ein „Gewinn“ für unsere Gesellschaft – solange sie nützlich sind und sich einfügen. Doch wer entscheidet über ihre Nützlichkeit und den Beweis dafür?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Demonstration im Mai gegen die Verschärfung des US-Einwanderungsgesetz. (Foto: dpa) In den USA kam es im Mai anlässlich der geplanten Verschärfungen des Zuwanderungsrechts zu einem Aufstand der „Unsichtbaren“. Über eine Million Zuwanderer mit und ohne Papiere legten ihre Arbeit nieder und machten damit öffentlich sichtbar, dass ohne sie, ob legal oder illegal, schon lange nichts mehr geht. Viele von ihnen organisieren sich in schon seit den 80er Jahren bestehenden „Workers Centers“: sie unterstützen sich in der Kinderbetreuung, organisieren Sprachkurse, Rechtsberatung, kulturelle oder Bildungsangebote. Solch ein Center gibt es seit drei Jahren auch in Frankfurt am Main. jetzt.de: Wie kam es zur Gründung des "Workers Center Rhein-Main"? Kirsten Huckenbeck: So anders als in den USA sind die Verhältnisse hier nicht. Orte, wo die Unsichtbaren ihre Probleme rund um Arbeit und Aufenthalt zur Sprache bringen können, braucht es auch in Deutschland, dachte sich eine Handvoll Aktivisten von Gruppen wie „kein mensch ist illegal“ oder „kanak attak“, aus der Zeitschrift „express“ und dem „Bündnis gegen Abschiebungen“ und anderen. Die Idee eines "Workers Centers Rhein-Main" war geboren. Seit seiner Gründung 2003 trifft sich das Workers Center regelmäßig ein Mal im Monat. Noch befindet es sich auf Wanderschaft, man trifft sich mal im türkischen Volkshaus, mal im Dritte-Welt-Haus oder auch in einem besetzten Uni-Institut. Manchmal entstehen durch diese Wanderschaft neue Formen der Kooperation: Ein Nachbarschaftszentrum mit Volksküche zum Beispiel, das auch zur Anlaufstelle für Bauarbeiter aus einer nahe gelegenen Containersiedlung wird. Dolmetscherangebote für den „Europäischen Wanderarbeiterverband“, der die Interessen und Rechte von legal oder illegal hier Beschäftigten vertritt oder Streikunterstützung für die meist migrantischen Beschäftigten von "Gate Gourmet", einem Airline-Caterer, der nicht nur in Düsseldorf, sondern auch im Rhein-Main-Gebiet Niederlassungen hat. Was ist das Problem? Kurz gesagt: Während das Kapital sich längst von allen Grenzen (auch nationalen) emanzipiert hat, gilt dies für die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften nur in Ansätzen. Sie hängen hinterher in Sachen praktiziertem Internationalismus. Gleichzeitig wird hierzulande versucht, den Niedriglohnsektor immer weiter auszubauen, das heißt Löhne und soziale Standards bei den Arbeitsbedingungen zu senken. Das Resultat: die Unsicherheit der Arbeits- und damit der Lebensverhältnisse, also das, was man Prekarisierung nennt, nimmt zu. Egal ob über Jobs, von denen man nicht mehr leben kann, über Leiharbeit, permanente Befristungen, Hartz IV, Scheinselbstständigkeit oder Mini-Jobs: Prekarisierung ist schon lange kein „Randphänomen“ mehr, sondern findet überall statt. Dabei greifen die traditionellen Formen von Interessenvertretung nicht mehr. Hinzu kommen die hohe Fluktuation unter den Beschäftigten, Vereinzelung, Sprachprobleme. Oft gibt es also „den Betrieb“ wo sich „die Belegschaft“ trifft und austauscht nicht oder nicht mehr. Es fehlt an Orten für gemeinsamen Erfahrungsaustausch.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Streikunterstützung gegen Gate Gourmet. Wer sind die Bösen? Das wäre einfacher, aber auch ziemlich langweilig, wenn die Welt so leicht einzuteilen wäre. Die Realität ist meistens etwas komplizierter. Ein Betriebsrat aus Stuttgart, den wir eingeladen hatten, über die Situation der Leiharbeiter beim Weltkonzern DaimlerChrysler zu berichten, hat es einmal so formuliert: Der Druck, unter dem die Beschäftigten leiden, wird immer von der nächsthöheren Ebene nach unten gegeben, und selbst die, die aufgrund ihrer Funktion die Fäden in der Hand halten sollen, die Werksleiter und das Management, argumentieren mit dem Konkurrenz-Druck, unter dem sie stehen. Das Problem sei eben das System. Was macht Ihr dagegen? Kollegen aus dem "Workers Center"-Grüppchen haben zum Beispiel einen kleinen Film über 18 rumänische SaisonarbeiterInnen gemacht: „Spargel-Ernte. Von 18 Frauen aus Arad, die ihr Recht erstritten“. Dabei erfuhren sie, dass der Spargelbauer in Südhessen, für den die Frauen „geackert“ haben, ihnen den Lohn vorenthielt. Ein Anruf von „offizieller Stelle“ mitten in der Erntezeit genügte: Die Gruppe gab sich als "Initiative für die Rechte der WanderarbeiterInnen" in Frankfurt aus und drohte den Fall mit Hilfe der Lokalpresse und Demonstrationen vor dem Hof öffentlich zu machen, wenn der Bauer nicht innerhalb von zehn Tagen zahlen sollte. Die Initiative gab es gar nicht, aber der Anruf führte dazu, dass der Bauer den Frauen endlich ihren Lohn zahlte. Wie überzeugt Ihr Leute vom Mitmachen? Wenn man Leute zum Jagen tragen muss, gibt’s meistens Unfälle. Ansonsten laden wir Menschen oder Gruppen ein, mit denen wir gerne diskutieren oder mehr machen wollen. Daraus entwickeln sich mal mehr, mal weniger kontinuierliche Beziehungen und Vorhaben. Wann geht Ihr wieder nach Hause? Wie gesagt: Die gute alte Systemfrage braucht ein bisschen Zeit, meistens stellt sie sich am nächsten Tag aufs Neue. Einige arbeiten gerade an einer Untersuchung über Arbeitsbedingungen von LeiharbeiterInnen, andere haben eine Art Nachbarschaftstreffpunkt aufgemacht, wo sie Volksküche, Stadtteilinitiative und Beratung anbieten, wieder andere sind auf dem G8-Gegengipfel zum Demonstrieren. Außerdem haben wir Kontakt zum Europäischen Wanderarbeiterverband aufgenommen und sind dabei auszuloten, wie wir den Wanderarbeiterverband bei seinen Baustellenbegehungen und seiner Aufklärungs- und Informationsarbeit für die Bauarbeiter unterstützen können. Man muss sehen, wie sich diese Vorhaben entwickeln. Ist Basisarbeit manchmal frustrierend? Ich persönlich finde, dass es nichts Spannenderes gibt als diese Art von politischer Bildungsarbeit: Man erfährt und lernt selbst eine Menge, und wenn’s gut geht, sind die Dinge hinterher nicht mehr so, wie sie vorher waren. Habt Ihr Vorbilder? Da hat sicher jeder und jede von uns ganz spezielle eigene Präferenzen. Aber wie es der Zufall will, läuft gerade im Hintergrund eine CD mit dem schönen Titel „Hits and Misses. The ultimate Sound of Fistfighting“. Es ist eine Tribute-CD für Muhammad Ali, die gut zum Thema passt: „Flow like Butterfly, sting like a bee, my name is Muhammad Ali. I won the gold medal for the land of the free, refused Vietnam, they took my license from me“. Muhammad Ali hat sich nicht vor den Karren spannen lassen, in Vietnam einzumarschieren, denn „no vietcong ever called me a nigger“. Sowas hörte er nur von seinen patriotischen Landsleuten, und das rieb er ihnen auch unter die Nase. Dafür musste er seine Box-Lizenz abgeben und wanderte wegen Wehrdienstverweigerung in Arrest. Chapeau! Wie passt der kleine Konflikt ins große Bild? Naja, auch wenn der Spruch schon ein bisschen betagter ist und sein Urheber nie einen Fuß in die produzierenden Untergeschosse der großen Produktionsstätte Gesellschaft gesetzt hat, aber als Frankfurterin kann es hierauf nur eine Antwort geben: Alles hängt mit allem zusammen. Deshalb ist das mit dem Kleinen und dem Großen so einfach nicht zu trennen. Euer Rat für Sesselrevoluzzer? „Jede Revolution beginnt mit einem Auflauf“. Warum sollte man sich mit dem zweifelhaften und ohnehin etwas virtuellen Stellvertretervergnügen zufrieden geben, bei einer Promi-Kochsendung auf dem heimischen Sofa einen Zuschauerplatz in der zweiten Reihe einzunehmen, wenn man in der ersten Reihe am Herd stehen könnte? Mehr Informationen zu dem Thema und zu verschiedenen Aktionen gibt es hier und hier

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