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Berlinkolumne. Heute: Landpartie

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Dass zwischen der Realität dieser Stadt und ihrer Darstellung im Internet Welten liegen, erwähnte ich schon an anderer Stelle. Der neuste Coup der "be-berlin"-Köpfe: Sie laden zu einer Schnitzeljagd. Sollte die tatsächlich etwas mit der gleichnamigen Fleischmahlzeit zu tun haben, werde ich teilnehmen. Mehr dazu aber dann. Wichtiger: Es ist Herbst, fast Winter, geworden, und dass der in Berlin eine sehr unangenehme Angelegenheit sein könne, wurde mir im Vorfeld meines Umzugs mehrfach mitgeteilt. Ich solle besser im Frühjahr umziehen und zunächst ein paar schöne Monate genießen, das Berliner Wetter sei ein bisschen wie ein Cabriolet, nämlich von Oktober bis April nicht wirklich zu gebrauchen. Und das stimmt leider. Sieht man von drei, vier Ausnahmen ab, war es in den letzten sechs Wochen grau, und zwar auf eine ganz fiese Art und Weise. Keine richtigen Wolken, sondern so eine Art Dunstschleim liegt über der Stadt, verklebt alles und geht mit der gegen 15.30 Uhr einbrechenden Dunkelheit eine sehr unheilige Allianz ein.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auf jeden Fall entscheiden wir uns dann doch erst einmal für die Flucht. Fünf junge Menschen, ein sehr großes Auto, ein Navigationssystem und eine Bananenkiste Essen und Trinken. Etwa eineinhalb Stunden, und wir sind fast am Meer, in einem Landstrich, dessen Metropolen auf eigentümliche Namen wie Ueckermünde, Pasewalk und Torgelow hören und der flach wie ein Brett ist. In den Ortschaften dieser Gegend sind so wenige Menschen unterwegs, dass das ohnehin so verschlafen klingende Wort Nebensaison noch ein Euphemismus ist. Die einzigen Leute, die man trifft, sind ältere Herren, die sehr, sehr langsam in Trainingsanzügen auf Damenfahrrädern unterwegs sind und traurige Skinheads, die an Bushaltestellen auf bessere Zeiten warten. Backwaren muss man zwei Wochen vorher bestellen, etwa alle 50 Kilometer hat dafür irgendeine höhere Macht eine Lidl-Filiale abgeworfen, die jetzt mitten auf dem Feld steht und sogar sonntags offen hat. Was ein bisschen enttäuschend ist: Über dem Norden Mecklenburg-Vorpommerns ist es genau so grau wie in der großen Stadt. Wir laufen am Strand von Usedom entlang und versuchen uns kurz einzubilden, dass der Himmel trotzdem anders aussieht. Dramatischer, unheilvoller, elementarer. Nach Sturm und gekenterten Schiffen. Es nieselt ein bisschen, für richtigen Regen langt es nicht. Trotzdem setzen wir uns in ein kleines Ausflugslokal. Am nächsten Tag, so steht auf laminierten Din-A-4-Zetteln, wird geschlossen, im Prinzip ist alles außer Rum, Espresso, Tee mit Zitrone und Waffeln mit Schlagsahne aus. "Eine Portion Tiramisu hätte ich noch", sagt die Bedienung traurig. Auf dem Fensterbrett stehen kleine Schiffe und Leuchtürme, ähnliche Modelle kaufen die Mädchen später in einem der beiden offenen Andenkenläden. Irgendwann am nächsten Tag fahren wird wieder zurück nach Berlin. Es ist grau, die ersten Straßenzüge sind mit leuchtender Weihnachtsdekoration geschmückt. Der Späti im Haus von T. verkauft rosa Spielzeugfreisprechanlagen für Kleinkinder. Ich freue mich, ein bisschen Farbe. Zurück zum Internet: Das macht mal wieder alles falsch. Gibt man die Stichpunkte "Berlin" und "Winter" ein, dann kommt man nicht nur zu einem gleichnamigen Hotel, sondern auch zu einer Seite, die das Grau, Grau, Grau geflissentlich wegignoriert. Vom "Winterzauber" wird da erzählt, und jetzt verstehe ich auch, warum immer noch so viele Touristengruppen eher ratlos die Kastanienallee heraufmarschieren und sich um die Heizpilze von Lokalen scharen, die Namen wie "Passion and Pasta" tragen. Die suchen das, was da versprochen wird, nämlich knackige Kälte, schöne Weihnachtsmärkte mit Christbaumschmuck aus dem Ergebirge, verschneite Boulevards sowie "Julklapp und Weihnachtsfeste nach amerikanischen Vorbild". Auch Brandenburg gibt Gas, plaktatiert die Stadt mit Riesenpostern irgendwelcher Superschlösser, die im Weiß versinken und in deren Zimmern man sich so richtig romantisch einkuscheln könne. Ich schaue in meinen Kalender und stelle fest, dass ich zumindest 2008 keine Zeit mehr habe: Die Schnitzeljagd mitsamt Gewinnerauslosung und Pipapo reicht bis weit in den Dezember.

Text: jochen-overbeck - Illustration: Katharina Bitzl

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