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Berlinkolumne: Wildschweinbraten in Kreuzkölln und die Gentrifizierung

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Es ist kalt geworden. Innerhalb von drei Tagen ist es so kalt geworden, dass ich friere. So kalt, dass ich den Regler an meinem Gasboiler, diesem eigenartigenTeufelsding, das mir bestimmt irgendwann um die Ohren fliegen wird, auf eine Position stelle, die angeblich für die Versorgung der Heizkörper mit Wärme verantwortlich zeigt. Passiert aber nix, stattdessen erscheint auf dem Display ein rotes "F", was vermutlich "Fehler" bedeutet, vielleicht auch irgendetwas Obszönes.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Blöder: Bisher konnte man draußen sein. Zum Rumhängen, zum Kaffee trinken und Zeitung lesen, zum Dinge aufessen und auch auf den ein oder anderen Drink. Das geht jetzt nicht mehr. Der Herbst ist da, und ganz offenbar kommt er mit seinen dunklen Wolken und einstelligen Temperaturen direkt aus Russland. Es ist der erste Sonntagnachmittag, den ich komplett in gastronomischen Einrichtungen abgammeln werde. Weil ich mich nicht um dieses doofe Heizungsding kümmern möchte, dafür müsste ich ja Kommunikation mit Fremden betreiben, und das ist heute irgendwie nicht so das, worauf ich Lust habe. Und weil zwei Freunde mir Neukölln zeigen wollen. Oder eher: Weil sie mir zeigen wollen, dass das mit dem Zeit verschwenden da besser funktioniert als im Prenzlauer Berg, wo ich wohne. Ich bin ein bisschen skeptisch. Ich war da ja schon ein paar mal, und mir erschienen die Wohnungen königlich groß und schweinebillig. Aber die Infrastruktur, die kam mir eher so naja vor. Das Schöne, und vielleicht ist das dann quasi die Kehrseite jener mangelnden Infrastruktur: Neukölln scheint heizpilzfrei zu sein. Diese Stadtbildverschandler, die seit etwa zwei Jahren vorderrangig in Mitte und Kreuzberg die Außenbereiche gastronomischer Unternehmen mit einer Wärme versorgen, die an die Abluft eines 80er-Jahre-Kaufhauses in der Provinz erinnert, sieht man hier kaum. Wenn es kälter wird, wie an jenem Nachmittag, macht man es als Gast so Oldschool-mäßig: Man geht halt rein. Da sind ja meistens auch Tische. Und: Man darf rauchen. Keine Ahnung, ob das auf der konsequenten Nichteinhaltung gesetzlicher Vorschriften fußt oder ob der Stadtbezirk Neukölln da einen Sonderweg geht, über den einfach nirgendwo groß berichtet wurde. Rütli-Schule und Toskana-Flair Im Ringo, einem charmanten Nierentisch-Café in einer wahnsinnig hässlichen Straße, hat auf jeden Fall jeder Zweite eine Zigarette im Mund. Dazu gibt es frischen Pfefferminztee, Sprizz, Espresso und Averna, zumindest an unserem Tisch. F. erzählt, wo er hier in der Nähe bereits wohnte, und wer zuletzt von wo nach wo gezogen ist. Das mit dem jährlichen Umziehen scheint ja ohnehin so ein beliebtes Berliner Steckenpferd zu sein, und Neukölln als verhältnismäßig günstiges Quartier ist da einer der Dreh- und Angelpunkte. Richtung Prenzlauer Berg scheint man von dort aus allerdings mit einer gewissen Skepsis zu blicken. Eigenartig, denn zumindest im Ringo sind die optischen Codes dieselben, die auch in den teureren Stadtteilen greifen: fliederfarbene Unterhosen von American Apparel etwa, die wegen einer etwas unglücklichen Barhocker-Sitzhaltung aus der schwedischen Röhrenhose nicht nur hervorblitzen, sondern gewissermaßen die optische Herrschaftshoheit über den ganzen Körper und irgendwie auch den ganzen Raum gewonnen haben... Wir gehen weiter. Irgendjemand kommt uns entgegen, der in irgendeiner Band spielt, die mal auf dem Cover irgendeiner Musikzeitschrift war. Klar, Neukölln, der Kreativbezirk. Kennt man ja aus tausend Zeitungsartikeln, und man weiß ja auch wie das weitergeht. Die Gentrifizierung kommt, und irgendwann verdrängen die pastellfarbenen Unterhosenträger die Einheimischen. Während wir an einem Geschäft, in dem man tatsächlich Briketts kaufen kann, vorbeigehen und ich den Kragen meines Wintermantels hochklappe, diskutieren wir darüber, ob das wirklich das ist, was gerade in Neukölln passiert. Ich glaub's ja nicht. Weil die Bevölkerungsstruktur eine ganz andere ist. Die Ost-Bezirke haben ihre Gesichter ja vornehmlich deshalb so radikal verändert, weil sie in Trümmern standen, weil ihr System kollabiert war und reichlich Spielfläche für Neues da war. Neukölln mit seinen gewachsenen Strukturen zu kapern, dürfte schwieriger sein. Außerdem hauen all die Musiker, Webdesigner und Jungkreativen vermutlich wieder ab, sobald sie mehr Geld verdienen und wenn der Nachwuchs da und alt genug ist, um Dinge zu tun. Auf die Rütli-Schule will man seine Kinder ja nicht so gerne schicken. Obwohl die Rütli-Straße echt ganz schön ist. Viele Bäume und so, mutet fast toskanisch an. Eher Lidl als Bio Später sitzen wir im Nansen. Wieder so ein Ort, den man hier nicht so recht vermuten möchte. Nah am Maybach-Ufer mit seinen Dutzenden an Gaststätten, aber irgendwie doch ganz schön weit weg. Wo Kreuzberg mehr so Biomarkt ist, ist Neukölln ja eher Lidl. Gerade deshalb erstaunlich: Wir essen wirklich extrem leckere Dinge. Zartrosa Wildschwein etwa, und Maispoularde. Es ist ziemlich leer, was aber nicht so verwunderlich ist. Die Laufkundschaft, die vergleichbare Lokale in den Hipster-Bezirken aufgreifen, die fehlt hier. Und betrachtet man die Sozialstruktur des Viertels, die Arbeitslosenzahlen und das Durchschnittseinkommen, dann kann man sich schon vorstellen, dass das für den durchschnittlichen Neuköllner schlichtweg zu teuer ist. Die Gäste müssen also aus anderen Stadtteilen anreisen. Macht man ja an einem Sonntagabend nur so halbgerne. Unseren letzten Drink nehmen wir ein paar Straßen weiter: Auch die Cantina ist eigentlich ein Speiselokal, auch hier ist die Karte nicht überteuert, aber doch eher Oberklasse. Kurz überlege ich mir, ob Kreuzberg schlichtweg herüberwuchert. Ob das mit dem neuen In-Bezirk vielleicht ein riesengroßer Irrtum ist, weil ein alter anschwillt und ausfranst, seine Hangouts großzügig in die Umgebung schleudert wie das Springkraut seine Samen. Die Klientel sieht auf jeden Fall sein bisschen so aus. Irgendwann mache ich mich auf den Heimweg. ich laufe über den Kottbusser Damm, gehe die Adalbertstraße entlang und biege dann Richtung Moritzplatz ab. Am Heinrich-Heine-Platz muss ich aussteigen und auf die gegenüberliegende Bahnsteigseite wechseln. Bauarbeiten, eingleisiger Betrieb. Als ein älterer, nach reichlich Schnaps riechender Herr im dunkelgrauen Trenchcoat an mir vorbeiwankt, fällt mir mein Makler wieder ein. Der erzählte mir, dass er, hätte er Geld, in Neukölln Wohnungen kaufen würde. Sein Grund, der wäre freilich wieder ein anderer. Wenn der Superflughafen Schönefeld endlich fertig ist, dann wäre Neukölln auf einen Schlag Innenstadt, so seine Theorie. Piloten, Stewardessen, all die Angestellten des Riesenairports und die vielen Pendler, die müssten schließlich irgendwo unterkommen, und dafür läge Neukölln ausgesprochen günstig. Deshalb würde das Viertel durch die Decke gehen. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob er da Recht hat. Ich glaube auch nicht, dass ich in absehbarer Zeit da hinziehen werde, ich bin schließlich gerade erst woanders angekommen. Dass im Fall eines Falles die Grundversorgung mit Wilschweinbraten und Sprizz gesichert sein wird, ist aber immens beruhigend.

Text: jochen-overbeck - Illustration: Katharina Bitzl

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