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Lebe ein Jahr ohne Medien, empfiehlt Jan, 30, Fachübersetzer aus Leipzig

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Was hast du gelernt oder studiert? Ich habe meinen Magister in Kulturwissenschaften und Philosophie an der Uni Leipzig gemacht. Vorher habe ich noch ein bisschen Informatik und BWL im Fernstudium studiert, aber ohne Abschluss. Wie oder warum hast du dich damals für den Weg entschieden? Ein Weg war es eigentlich nicht, eher ein Umweg. Aber ein schöner! Weil es bei uns auf dem Dorf so langweilig war, hatte ich mit 16 eine kleine Computerfirma gegründet. Ich importierte in bescheidenem Stil Sachen aus Amerika und unterstützte Lieferanten bei ihrem Auftritt auf dem deutschen Markt, etwa mit Service für ihre hiesigen Kunden oder eben mit Übersetzungen von Handbüchern oder Marketingmaterial. Als ich mit dem Zivildienst fertig wurde, begann gerade die New Economy, alle Firmen hatten schrecklich viel Geld und ich ein sehr gutes Angebot für die freie Mitarbeit bei einem Kunden. Ich beschloss, ein wenig von dem schrecklich vielen Geld mitzunehmen und das Studieren noch ein wenig aufzuschieben. So rutschte ich sozusagen in die Selbstständigkeit und machte von Stund an Softwaretests und Übersetzungen für diese und andere Computerfirmen. Ich hatte gut zu tun, flog viel in der Gegend herum und war wohl einer der jüngsten Besitzer der goldenen Kundenkarte von British Airways. Irgendwie wollte ich aber ja doch noch etwas Seriöses studieren, Sprachen vielleicht oder Psychologie. Meine Mutter (Psychologin) sagte: 'Psychologie bringt dir nichts, das Denken des Menschen kann man nicht verstehen. Studier doch lieber Philosophie!' Das fand ich gut und schrieb mich also ein. Meine Nebenfächer waren Soziologie und Linguistik. Die Soziologen waren dann aber irgendwie seltsam und die Linguisten sahen komisch aus. Die Kulturwissenschaftler dagegen, die ich kennen lernte, waren alle prächtige, schöne Menschen! Also tauschte ich nach einem Jahr die beiden Nebenfächer gegen Kulturwissenschaften als zweites Hauptfach. Und dabei blieb es dann. Was machst du heute beruflich? Ich hatte meine Arbeit während des Studiums nie ganz aufgegeben und mir einen kleinen Kundenstamm aufgebaut. Inzwischen konzentriere ich mich ganz auf technische Übersetzungen. Ich baue das jetzt etwas aus und habe gerade meine erste Mitarbeiterin eingestellt. Trotzdem war das Studium nicht nur Episode – ich möchte in den nächsten Semestern ein paar Seminare geben und in ein bis zwei Jahren auch noch promovieren, allein schon aus ästhetischen Gründen. Eine akademische Karriere strebe ich nicht unbedingt an, das können andere besser. Aber ein wenig als Privatgelehrter weiterarbeiten, mit einem Standbein in der Wirtschaft – wenn das so klappen würde, wäre ich sehr glücklich. Würdest du dich aus heutiger Sicht wieder so entscheiden? Nochmal Kulturwissenschaften? Absolut! Hier in Leipzig geht es bei diesem Fach darum, Kultur interdisziplinär im weiten Sinne der "zweiten Natur" zu untersuchen, als das Gebilde aus Sinn und Deutungen, das der Mensch über die vorgefundene, die erste Natur legt. Wenn man diese Arbeit ernst nimmt, ist sie sehr anstrengend, denn man analysiert sich gewissermaßen jede liebgewonnene kulturelle Gewissheit unter dem Hintern weg und muss sich irgendwo auf einer zugigen Meta-Ebene ein neues Zuhause suchen. Wenn man das aushält, ist es aber auch eine ganz unglaublich interessante Beschäftigung. Wer eine Ausbildung zu einem fertigen Beruf sucht, ist hier wohl falsch. Aber für mich war es genau richtig. Nochmal gleich nach der Schule selbstständig? Weiß ich nicht – war interessant, aber man läuft auch Gefahr, ein kleiner Idiot zu werden. Nochmal Übersetzer? Ja, auch wenn der Markt rauer geworden ist und man ohne fachliche Zusatzqualifikation kaum eine Chance hat, sich zu etablieren. Welchen Rat würdest du Schülern mitgeben, die 2010 die Schule abschließen? Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum! Hähä, nein, Quatsch. Sehen und denken lernen. Angst verlieren. Nein sagen können. Scheitern zulassen. Trotzdem vertrauen. Ein As im Ärmel haben. Sinnfragen stellen, aber nicht verzweifeln. Wissen, wie Wirtschaft funktioniert. Ein Jahr ohne Medien leben, stattdessen seine Umwelt und sich selbst beobachten. Sextus Empiricus lesen und Skeptiker werden.

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