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Heulmutti und U-Bahn-Papi

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Illustration: karen-ernst Was die eigene Männlichkeit angeht, ist jeder empfindlich gegenüber kritischen Blicken oder gar operativen Eingriffen. Keiner geht wegen eines Problems mit seinem Pimmel zum Arzt. Es sei denn, er hat unerträgliche Schmerzen. Kein Ding kommt einem so groß, stark und unverwundbar vor, als dass man es freiwillig risikoreich unter einem Skalpell platzieren wollte – dann doch lieber eine elfstündige Lungentransplantation oder eine Operation am offenen Herzen! Aber manchmal geht es nicht anders. Balthasar hatte eine Phimose, d.h. seine Vorhaut ließ sich nicht richtig über die Eichel ziehen. Nach der Pubertät hieß es dann: Schnipp, schnapp, Vorhaut ab. Was auf der Welt konnte ein unsicherer 17-Jähriger sich mehr wünschen, als vor einem Operationsteam die Hosen runterzulassen und einen gerade zehn Jahre älteren Arzt im Praktikum an sich rummessern zu lassen? Doch damals hatte Balthasar keine andere Wahl. Die Peinlichkeit, der Schmerz und das kleine bisschen Vorhaut waren der Preis dafür, dass Balthasar und sein Pimmel hinterher ein normales Leben führen konnten. Jetzt war Balthasar in seinem Leben wieder an einem Punkt angekommen, an dem er keine andere Wahl hatte. Er musste seinen Eltern sagen, dass er schwul war. Balthasar liebte Kevin. Er liebte es, von ihm in den Armen gehalten zu werden. Mit ihm einzuschlafen und neben ihm aufzuwachen. Grundlos zärtlich zu sein. Wenn Balthasar seinen Eltern nichts davon erzählte, dann wussten sie nicht, wer ihr Sohn war. Dann müsste Balthasar alles, was auf Kevin hindeutete, in den Schrank räumen, falls seine Eltern ihn mal besuchten. Dann müsste er sich dauernd plausible Geschichten ausdenken, warum er keine Freundin hatte. Das Gespräch mit den Eltern war der Preis für ein Leben ohne Lügen. Wie hoch der Preis sein würde, wusste Balthasar nicht. Und das machte ihm Angst. Balthasar hatte keinen blassen Schimmer, wie seine Mutter und sein Vater reagieren würden. Etwa wie die Eltern von Frank? Dessen Vater hatte nämlich in Anspielung auf Franks beste Freundin Cora gesagt, wenn er sich nur mit so hässlichen Mädchen umgebe, dann sei das alles auch kein Wunder. Oder doch wie die Eltern von Martin? Dessen Mutter fand das Ganze eine vernünftige Sache: „Der Ex-Freund von deiner Schwester, das war ein Guter. Vielleicht kannst du den in der Familie halten.“ Dann mal ran… Jämmerliches Stück Schwanz „Ich bin schwul.“ Balthasar hatte sich bemüht, diesen Satz so ruhig und beiläufig wie möglich zu sagen. Ihm war nicht danach, die Worte langsam und genüsslich durchzukauen, als wären sie ein Kaugummi mit fruchtigem Erdbeer-Geschmack. Das waren sie nicht. Das war keine angenehme Situation. Balthasar wollte die Worte aber auch nicht hastig ausspucken, als würde er sich vor ihnen ekeln. Er wollte sie so alltäglich und normal wie möglich sagen. Weil Schwulsein für ihn inzwischen etwas Alltägliches und Normales war. Balthasar saß mit seinen Eltern am Wohnzimmertisch. Weil seine Hände ein wenig zittrig waren, krallte er sich mit der linken an seinem Bein fest. Die rechte umfasste die Teetasse, die Balthasar jedoch nicht in der Luft hielt, sondern fest auf die Untertasse drückte. Obwohl Balthasar ein Sweatshirt, eine Jeans und – wegen des angebrochenen Winters – sogar eine lange Unterhose trug, fühlte er sich splitternackt vor seinen Eltern. Noch während Balthasar seinen Satz aufsagte, bemerkte er eine erste Träne in den Augen seiner Mutter. „Mama“, sagte er. Doch die war bereits mit einigen weiteren Tränen in den Augen unterwegs in Richtung Tür in die Küche. Balthasars Vater blieb sitzen. Und starrte. Balthasar fühlte sich seinem Vater so schutzlos ausgeliefert wie dem Arzt bei der Beschneidung. Balthasars Vater blickte, als wolle er sich tatsächlich gleich in die Rolle des Operateurs begeben. Als würde er gleich bitter lachen. Und dann sagen: „Das ist wirklich das jämmerlichste Stück Schwanz, das ich in 30 Jahren voller Beschneidungen gesehen hab. Da muss weit mehr weg als die Vorhaut. Alles weg. Ich schone heute mal das Skalpell und benutze ein altes Küchenmesser.“ Epilog: Zum Glück war Balthasars Vater aber kein Operateur, sondern Büroangestellter. Der konnte nicht schneiden, sondern nur starren. „Papa“, sagte Balthasar. Aber sein Vater starrte weiter. Und weiter. Balthasar wusste nicht, wie lang die Situation andauerte. Er schaute nicht auf die Uhr. Er schaute nur noch flach auf den Tisch. Es mochten zehn bis fünfzehn Minuten sein. Vielleicht viel kürzer. Vielleicht viel länger. Jedenfalls eine Ewigkeit. Dann brach sein Vater plötzlich das Schweigen. Vater (überraschend gefasst): Deine Mutter heult da drüben in der Küche. Also erzähl’ nie wieder so einen Unsinn. Balthasar: Papa, ich… Vater (weiter sehr ruhig im Ton): Schluss jetzt damit. Man muss auch nicht bei jedem neumodischen Unsinn mitmachen. Balthasar: Papa, ich… Vater: Jetzt lass’ das mal. Was ich dich mal fragen wollte, wie viele U-Bahn-Linien habt ihr eigentlich in Köln? Balthasar war fassungslos angesichts dieser Frage. Es war die unpassendste Frage und die unpassendste Reaktion, die er sich vorstellen konnte. Missachtung war schlimmer als Tränen oder Vorwürfe oder Gebrüll. Balthasar spürte, seine Mutter würde in ein paar Tagen bei ihm anrufen und behaupten, sie hätte gar nicht geweint. Sie hätte nur etwas im Auge gehabt und fände das alles gar nicht schlimm. Hauptsache, Balthasar sei glücklich und werde nicht auch noch Vegetarier. Es wäre gelogen. Aber gelogen aus Liebe. Seine Mutter würde sich an die Situation gewöhnen. Und in ein paar Monaten wäre das alles okay. Aber Balthasars Vater würde die Sache jetzt und in Zukunft ignorieren. Weil es ihm zu anstrengend war, sich damit auseinandersetzen zu müssen. Von heute an würden die Gespräche zwischen Balthasar und seinem Vater sich immer um so spannende Dinge wie die Anzahl der U-Bahn-Linien in Städten drehen. Sie waren jetzt innerlich per Sie.

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