Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Berlin hat einen Sprayer-Atlas

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Polizei- und Kriminalitätsstatistiken sind keine spannende Lektüre. Es sei denn, man ist Graffiti-Künstler.  

Carlson Janke ist 29, und nicht nur in seiner Freizeit mit Street Art beschäftigt. Er arbeitet beim Graffiti-Archiv Berlin, einer Art Unterabteilung des Archivs der Jugendkulturen. Sie sammeln Flyer, Magazine, alles, was Ausdruck der Jugend- bzw. Graffitikultur ist und für die Szene und die Nachwelt interessant sein könnte. Auch in der Polizeistatistik ist Carlson jetzt fündig geworden.

Seit einigen Jahren weist die Berliner Polizei in ihrem „Kriminalitätsatlas“(hier als PDF) Graffiti-Delikte gesondert aus, anstatt sie einfach in den großen Sack namens „Sachbeschädigung“ zu stecken. Carlson hat diese Daten aus dem Polizeibericht grafisch verarbeitet – zum ersten Berliner Graffiti-Atlas.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Karte sagt allerdings nicht wirklich etwas über die tatsächliche Anzahl von Graffiti in den verschiedenen Stadtteilen aus. Sie gibt nur Auskunft darüber, wo am meisten Graffiti-bedingte Anzeigen eingingen. Nach absoluten Zahlen lag 2011 Prenzlauer Berg mit 754 Anzeigen ganz vorne. Eine Graffiti-Hochburg ist das Viertel trotzdem nicht: „In einem Sanierungsgebiet verschwinden Graffiti eigentlich. Aber weil die Anwohner neu bemalte Wände viel aufmerksamer wahrnehmen, gehen die Anzeigenzahlen dort nach oben“, sagt Carlson.

Für die Sprayer-Szene ist die Karte trotzdem aufschlussreich. Denn die Daten aus dem Atlas sind auch Grundlage für nächtliche Polizeieinsätze. Beim Berliner Landeskriminalamt ist die sogenannte „Gemeinsame Ermittlungsgruppe Graffiti in Berlin“ (GE GIB) angesiedelt. Die ist nachts unterwegs und hält nach Sprühern Ausschau – „und das am meisten dort, wo die meisten Anzeigen eingehen“, sagt Carlson.

Auf diese Art der Polizeiarbeit ist Carlson nicht sonderlich gut zu sprechen. „Es gibt in Berlin eine schizophrene Situation. Auf der einen Seite ist da eine Nulltoleranzpolitik des Senats, der alles versucht, Graffiti zu unterbinden. Gleichzeitig macht das Stadtmarketing aber Werbung mit der reichen Street-Art-Kultur Berlins.“ Damit meint er zum Beispiel Tipps auf der Seite der Tourismus-Agentur „Visit Berlin“, an der auch das Land Berlin beteiligt ist. Dort wird mit den „Stars der Szene“ geworben, der Besucher findet (veraltete) Tipps für Street-Art-Touren.  

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Touristen fotografieren ein Motiv des Street-Art-Künstlers El Bocho

Aus Carlsons Atlas lassen sich auch generelle Stadt-Trends ablesen. Auffällig ist, dass die weitgehend von hipper Jugendkultur vernachlässigten Westbezirke die wenigsten Graffiti-Anzeigen verbuchen. Auch die weiterziehende Gentrifizierung lässt sich beobachten. In Prenzlauer Berg gehen die Anzeigen zurück, in später von der Aufwertung heimgesuchten Vierteln wie Neukölln steigen sie. „Das ist schon interessant: Graffiti-Anzeigen wandern dorthin ab, wo auch die Mietspiegel in die Höhe geschnellt sind. Einerseits unterstützt das die alte These, dass Graffiti der Vorreiter der Gentrifizierung ist, andererseits sind da auch viele Graffiti dabei, die sich genau gegen diese Gentrifizierung oder auch Touristen richten.“ Auf dem Graffiti-Atlas sind diese Gebiete mit kleinen Rollkoffern für „Touristengraffiti“ gekennzeichnet. In Neukölln sieht man eine Sprechblase mit Flüchen, weil hier vor allem politische Schriftzüge zu finden sind, „gegen Gentrifizeriung und für Freiräume am Tempelhofer Feld.“

Carlson will den Graffiti-Atlas in den nächsten Jahren auf jeden Fall mit den neuen Zahlen weiterführen. „Es ist für die Graffitiszene interessant, was die Polizei denkt“, sagt er. Außerdem finde er es spannend, die eigene Wahrnehmung der Stadt mit den Anzeigenzahlen abzugleichen. Seiner Wahrnehmung nach ist nämlich Kreuzberg die momentane Graffiti-Hochburg der Hauptstadt. Im Atlas hat sie allerdings keine Flamme für einen „Anzeigenschwerpunkt“ bekommen.

  • teilen
  • schließen