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Hat das Smartphone die Langeweile gekillt?

Foto: FemmeCurieuse / photocase.de

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Ich sollte jetzt aufstehen. Ich sollte aufstehen, zum Schreibtisch gehen und diesen Text schreiben. Stattdessen liege ich seit einer Stunde im Bett, starre auf das Display meines Handys und wechsele von einer App zur nächsten. Facebook, Instagram, Snapchat. Öffnen, scrollen, aktualisieren und immer wieder feststellen: Nichts davon ist wirklich interessant. Eine niederschmetternde Erkenntnis steigt in mir hoch: Ich habe das Internet durch. 

Was von dieser Stunde bleibt? Nichts. Außer Langeweile. Und das, obwohl ich die ganze Zeit beschäftigt war. Ich habe gescrollt, hunderte Fotos und Videos angeschaut, Kommentare gelesen. Und doch fühle ich mich leer. Als sei da nichts gewesen in der letzten Stunde. 

Das klingt seltsam. Denn kann es überhaupt noch Langeweile geben, wenn einem mit Smartphones und Internet eine schier unendliche Auswahl von Inhalten jederzeit und überall zur Verfügung steht? Wenn wir nicht mehr in die Luft starren müssen und mit unseren Gedanken alleine sind an der Bushaltestelle, weil wir pausenlos durch die Gedankenmaschine Internet wischen können? Ist das also überhaupt noch Langeweile, was ich verspüre? Die Langeweile des 21. Jahrhunderts? Und wenn ja: Wieso stirbt die nicht aus?

An sich sei der Begriff der Langeweile wertfrei, sagt Professor Stephan Humer, Soziologe und Informatiker. Aber er habe in unserer leistungsorientierten Gesellschaft eine negative Konnotation. „Langeweile hat immer etwas von Antriebslosigkeit und auch ein bisschen etwas von Wertlosigkeit.“ Die genauen Ursachen der Langweile seien schwer zu bestimmen, sagt Humer. „Es ist ein Zustand, in dem eine völlige Plan- und Aufgabenlosigkeit herrscht und sich die Frage stellt: Was mache ich jetzt?“ Nichts Anderes ist die Smartphone-Langeweile. Quasi planlos öffne ich eine App nach der anderen, auf der Suche nach Beschäftigung und Ablenkung.

Langeweile kann aber auch entstehen, wenn man eigentlich sehr viel zu tun hat, aber auf nichts davon Lust. Oder sie entsteht, wenn man etwas machen muss, das man nicht machen möchte – einen langweiligen Job zum Beispiel. Menschen, die sich in ihrem Beruf permanent unterfordert fühlen, leiden am sogenannten Bore-out, dem Gegenspieler zum Burn-out. 

Sich durch Instagram zu scrollen ist wie Zappen im Fernsehen: reine Zeitverschwendung

Ich stehe auf und gehe nicht zum Schreibtisch. Ich treffe mich mit einer Freundin auf ein Bier. Sie kennt das Gefühl, sich mit seinem Smartphone in der Langeweile zu verlieren. Auch sie macht trotzdem weiter, obwohl alle Inhalte so erwartbar wie austauschbar sind. Die Algorithmen, die vermeintlich relevante Inhalte für uns vorsortieren, sorgen dafür, dass einem stets das Gleiche angezeigt wird und man sich hinterher leerer fühlt als vorher. Ein sonniges Wochenende produziert beispielsweise einen Feed, in dem sich ein Bild von sonnigen Badeseen, eisessenden und im Park chillenden Menschen an das nächste reiht. Die Botschaft all dieser Bilder ist so durch- wie der Informationsgehalt überschaubar. Sich durch Instagram zu scrollen ist wie Zappen im Fernsehen: reine Zeitverschwendung. Das Internet haben wir uns irgendwie fetter vorgestellt.

Der Barkeeper mischt sich ein. Er ist um die 50 und vom Typ alt gewordener Rocker: „Ihr wisst doch gar nicht mehr, was richtige Langeweile ist!“ Er erzählt von früher und wie Langeweile ohne Internet, Spielekonsole und mit nur drei Fernsehsendern war. Ein bisschen „früher“ kenne ich auch noch. Ich erinnere mich an nicht enden wollende Nachmittage, an denen die Hausaufgaben schon gemacht waren und ich die begrenzte Fernsehzeit wie ein Heiligtum bis zum Abend aufgespart habe, sodass ich mich entschied, zunächst in meinem Kinder-, später dann in meinem Jugendzimmer, die Wände anzustarren. Der durchaus gut gemeinte Rat meiner Eltern, ich solle doch rausgehen, war auch keine akzeptable Option. 

Langeweile war ein Moment der inneren Einkehr. Ein Moment der Einsamkeit, in dem man sich mit sich selbst konfrontiert sah. Wenn es besonders schlecht lief, begegnete man großen Fragen und Zweifeln. Das kann sehr unangenehm sein, sodass der Impuls, diesem Zustand entgegenzuwirken, groß ist. 

Heute sind wir darauf konditioniert, einen Blick auf unser Smartphone zu werfen, sobald sich ein aufgabenloser Moment ergibt: an der Haltestelle, wenn die Begleitung im Restaurant kurz zur Toilette geht oder in der Schlange im Supermarkt oder an der Kaffeetheke. Wo früher, eingeleitet von einem genervten Seufzen, ein belangloses Gespräch darüber entstanden wäre, wie unfassbar langsam die Bedienung oder wie toll das Wetter ist, starrt heute jeder auf sein Handy. Im Ergebnis ist das vielleicht genauso belanglos. Nur die Form ist neu. 

Einige behaupten, das durch Smartphones bedingte Ende der Langeweile bedeute auch das Ende der Kreativität

„Langeweile setzt heute erst sehr viel später ein als früher“, sagt Stephan Humer. „Durch die Einwirkungen der digitalen Revolution gibt es eine schier unendliche Auswahl an Möglichkeiten. Man muss ständig entscheiden: Will ich das machen, oder will ich das nicht machen?“ Langeweile sei heute deutlich aufwendiger herzustellen, sagt Humer.

Einige behaupten, das durch Smartphones bedingte Ende der Langeweile bedeute auch das Ende der Kreativität. Zum einen, weil Smartphones uns immer wieder mit Neuigkeiten versorgen, weshalb unsere Gehirne nicht mehr frei und kreativ einfach mal so auf Neues kommen können. Oder einfach mal ohne den Stress ständiger Impulse ein bisschen ausruhen können. Die Auszeiten fürs Gehirn schwinden – gerade sie halten Psychologen aber für wichtig, weil Phasen ungerichteten Denkens Kreativitäts-Quellen sind.

Sind die positiven Effekte der Langeweile durch Smartphones also wirklich abhandengekommen? Ist die neue Form der Langeweile destruktiv? 

Nein. Offensichtlich kann auch mit Smartphones Langeweile aufkommen, die dann wiederum in Kreativität münden kann. Denn auch die konsumierten Inhalte haben in ihrer vermeintlichen Belanglosigkeit noch immer eine Funktion: Sie können dazu animieren, das, was man gerade gesehen hat, nachzumachen oder weiterzuentwickeln. Das gibt es in gut (Make-up-Tutorials oder Einrichtungsinspirationen) oder in schlecht (gesundheitsgefährdende YouTube-Challenges). Oder sie können dazu animieren eigene Inhalte zu produzieren, seien es Kommentare, Videos, Remixes oder Blogposts. Außerdem stellen uns die technischen Entwicklungen sowieso permanent vor neue Herausforderung: „Die Digitalisierung konfrontiert uns in extrem kurzen Abständen mit immer neuen Aspekten, die das Erlernen neuer Fähigkeiten von uns verlangen“, sagt Stephan Humer. 

Es mag heutzutage schwieriger sein, Langeweile zu produzieren. Und die Langeweile scheint sehr viel beständiger zu sein, bevor sie Raum für etwas Neues gibt, am Ende steht jedoch die Gewissheit: Langeweile wird vermutlich niemals aussterben. 

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