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Mythos: Perfekte und unfehlbare Eltern

Illustration: Lucia Götz

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Es fehlte wirklich nicht mehr viel, bis ich wutentbrannt unseren Garten verlassen hätte. Seit fast drei Stunden versuchten mein Vater und ich, einen Pavillon aufzubauen. Nicht etwa ein hochkomplexes, aus 100.000 Einzelteilen bestehendes Oktoberfestzelt. Sondern einen ganz normalen Faltpavillon für das Grillfest an meinem 18. Geburtstag. Wir hatten erst am Tag des Fests mit den Aufbauarbeiten begonnen, deshalb waren wir jetzt unter Zeitdruck. Als ich meinem Vater deshalb den Vorschlag unterbreitete, meine Freunde um Hilfe zu bitten, antwortete er lässig: "Ich hab in meinem Leben schon so viele Zelte aufgebaut, das kriegen wir auch alleine hin."

Elektrisiert bis in die Zehenspitzen stand er jetzt vor mir auf dem Rasen und studierte die Aufbauanleitung. Anstatt anzupacken, exerzierte er jedes noch so kleine Detail darin eloquent durch. Ich konnte nicht fassen, dass der Mann, den ich für den Geschicktesten und Klügsten der Welt hielt, so eine heftige handwerkliche Flaute hatte. Immerhin hatte er mir jahrelang in ausgeschmückter Ausführlichkeit von Trips mit seinen Kumpels durch ganz Europa erzählt. Darin hatte es geheißen: "Wir hatten kein Geld mehr und mussten uns eine Woche von Melonen ernähren und Puddingpulver lutschen" oder "wir wurden beklaut und mussten uns Hütten aus Ästen und Handtüchern bauen". Ich war also immer fest davon überzeugt, mein Vater sei ein zweiter MacGyver oder Captain Fantastic gewesen. Aber jetzt stand er mit seinen zwei linken Händen vor mir und war dabei meinen 18. Geburstag zu ruinieren. Und er merkte es nicht mal. Stur lehnte er auch meinen Vorschlag ab, meinen Onkel um Hilfe zu bitten: "Wir kennen doch jetzt die Reihenfolge der Stäbe, läuft doch super", antwortete er. Innerlich hatte ich mir bereits die Facebook-Formulierung für meine Partyabsage ausgedacht: "Liebe Leute, wir haben keine Pavillons, wenn es also regnet, seid ihr wieder ausgeladen."

Dann merkte ich: Es gab neben meiner Angst vor dem Ins-Wasser-Fallen des Fests noch ein anderes Problem an der Geschichte: Ich war enttäuscht von meinem Vater. Gar nicht unbedingt, weil mein Vater handwerklich völlig untalentiert ist. Sondern weil er mir jahrelang eingeredet hatte, er könne mir mit seinen bloßen Händen ein Haus bauen. Das verletzte mich. Ich hatte den Eindruck, auf ihn sei kein Verlass. Seine falsche Eitelkeit verzerrte das Superhelden-Bild, das ich immer von ihm hatte.

Eltern wollen ja unfehlbar und heldenhaft sein

Bei meiner Mutter war es ähnlich: Genauso wie ich Papa für wahnsinnig geschickt hielt, dachte ich, Mama sei der mutigste Mensch der Welt. Nichts konnte sich ihr in den Weg stellen, denn anstatt selber Tränen zu vergießen, trocknete sie die Tränen anderer. Ich hielt sie lange für unsterblich.

Auch sie gab sich größte Mühe, ihr Helden-Image zu behalten. Erst ziemlich spät bemerkte ich, dass meine Mutter Höhenangst hatte. Sie hatte früh erkannt, dass mein Bruder und ich großen Spaß an Achterbahnfahrten hatten. Die Frau, die sich in ihrer Jugend nicht mal auf ein Kettenkarussell traute, begleitete uns also, ohne zu zögern, auf die "Black Mamba" im Phantasialand. Während ich bei jedem Looping vor Freude meine Arme in die Luft schmiss, zuckte Mama zusammen, kniff ihre Augen zu und gab keinen Mucks mehr von sich. Ihre Finger zählten heimlich die Runden. Ich fragte sie, ob alles in Ordnung sei, unbeeindruckt antwortete sie nur: "Ich kann die Fahrt so viel besser genießen." Ich glaubte ihr – vorerst. Als ich älter war, konnte sie ihr kreidebleiches Gesicht nicht mehr vor mir verstecken. Dass nur die Fliegen, die ihr ins Auge flogen, an ihrem glasigen Blick schuld waren, glaubte ich auch nicht mehr. In diesem Moment war ich wieder enttäuscht: Meine Mutter war offenbar nicht so mutig, wie ich dachte. Sie hatte Angst vor großer Höhe – und das ist ja eher suboptimal für eine Superheldin.

Wenn man dann älter wird...

Dass die Flugangst meiner Mutter schuld daran war, dass die meisten Familienausflüge nie über die holländische Grenze hinausreichten oder mein Vater bei meinem Auszug lediglich meine Freunde dirigierte, anstatt selber mitzuhelfen, hat mich ziemlich genervt. Lange habe ich ihre Schwächen als lästig empfunden. Bis ich meine eigenen entdeckte. Und im Urlaub mal in einer Clubtoilette eingesperrt war, weil die Tür klemmte. Also eine Stunde in einer 30 Grad warmen, geschlossenen Kabine mit einer Panikattacke kämpfte und seitdem jeden engen Raum und jede Aufzugfahrt, die länger als ein paar Sekunden dauert, meide. Obwohl meine Freunde immer wieder fluchen, wenn ich darauf bestehe, die Treppen auch in den 20. Stock zu laufen, überwinde ich mich nur selten und nehme den Fahrstuhl.

In diesem Moment wird mir immer wieder klar, was meine Mutter für uns auf sich nahm. Trotz ihrer extremen Höhenangst begleitete sie uns auf Free-Fall-Tower, Riesenräder und Achterbahnen und bemühte sich dabei noch, uns das Gefühl zu geben, dass es ihr nichts ausmache.

Ich stellte also fest, dass es viel heldenhafter ist, seine Schwächen täglich zu überwinden, anstatt keine zu haben. Heute noch bitte ich meinen Vater um seine Hilfe. Denn: Auch, wenn es mal etwas länger dauert, für mich würde er das Grundstück nie verlassen, bevor der Pavillon steht. Er bleibt unermüdlich am Werk, während andere Menschen längst aufgegeben hätten. Und dass wir an meinem 18. Geburtstag nur einen einzigen Pavillon hatten, störte bei einigen Promille in einer warmen Sommernacht niemanden.

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