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Macht Freiheit einsam? Astrid Schäfer gewinnt den Essay-Wettbewerb

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Stimmen zum Text Anne Zielke, Autorin und Mitglied der Jury schreibt: Toller, starker Text, der mitten hineinreitet in die Lebenswirklichkeit und das Lamentieren ein für alle Mal verbietet. Mateo Kries leitet das Vitra Design Museum in Berlin, gehört zur Jury und schreibt: Einer der ungewöhnlichsten Texte des Wettbewerbs und einer der gelungensten. Er offenbart nicht nur originelle Gedanken zum Thema Freiheit, sondern fand auch noch eine eigenständige Form, die die klassischen Essay-Konventionen sprengt. Nie banal und bereichernder als mancher philosophiosche Höhenflug. Dirk von Gehlen leitet die jetzt.de-Redaktion, ist Teil der Jury und schreibt zu Astrids Text nur dies: Lesen! +++ Scheinfrei sein. Von Astrid Schäfer Dieser Tag gehört nicht mir. Ich stehe mit einem grässlichen Kater und anderen Wartenden an einer Bushaltestelle in London. Meine Wohnungsschlüssel liegen auf Pauls Tübinger Küchentisch, keine meiner Londoner Mitbewohnerinnen ist zu Hause und der Griff an meinem Trolley ist seit Frankfurt kaputt. Als der dritte 11er Bus geradewegs vorbeifährt ohne anzuhalten, wendet sich die Spanierin neben mir empört an mich: „Wie fühlen Sie sich jetzt?“ Ich zucke mit den Schultern. Meine Ohren sind taub, meine Finger abgefroren. Wie soll ich mich fühlen? Der Busfahrer ist natürlich ein Arschloch. Sie jammert: kalt und unfreundlich und dreckig – was finden die vielen Menschen bloß an der Stadt? Sie sind hier freier, sage ich. Hier kannst du… Sie unterbricht mich: „Ja, fantastisch!“ Wütend lässt sie ihre vier Einkaufstüten fallen, redet lauter. „Du bist ja so frei hier. Alles ist möglich! Keiner schert sich einen Dreck um dich, niemand kümmert sich! Wirklich fantastisch“, wiederholt sie ironisch. „In Spanien ist das ganz anders“, sagt sie leise. Aus ihrer Nase läuft Rotz, den sie sich mit dem Zeigefinger in den Mund wischt. Ist das (die Einsamkeit, nicht die laufende Nase) tatsächlich die Nebenwirkung von Freiheit? Gestern hätte ich noch energisch den Kopf geschüttelt (heute lassen die Kopfschmerzen das nicht zu). Wir haben mit Paul seine Scheinfreiheit gefeiert. Das ist kein Scherz, sondern ein Studentenwort für: Paul muss keine Scheine mehr sammeln. Also haben wir getrunken, getanzt, geküsst (Jungen oder Mädchen oder beides, geht alles) und noch mehr getrunken. Scheinfrei macht nicht einsam, das macht Spaß: Frei von Vorschriften, Traditionen, Pflichten. Wir essen was wir wollen und bleiben immer so lange auf, wie es geht. Dabei können wir wahl- und sinnlos über Abtreibungen, Analsex, Arbeitslosigkeit und Antipasti reden, weil es keine Tabus mehr gibt, die wir brechen könnten. Merkwürdig nur, dass trotzdem alle immer und immer wieder das gleiche sagen. Individuell sind bei uns die Lieder im iPod, keinen iPod zu haben ist allerdings unvorstellbar. Unsere Idee von Freiheit funktioniert eher wie IKEA: Wir können alles haben – zumindest das, was der Katalog hergibt. Selber bauen? Ja, aber nach Anleitung. Weil wir zu recht fürchten, dass echte Freiheit unangenehm werden könnte. Von Sartres Satz: „Gott ist tot, und der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ nehmen wir das, was uns passt: Ein toter Gott gibt noch mehr Spielraum. Aber Freiheit, die ein schweres Urteil ist, die wollen wir nicht. Die Spanierin will zu Fuß zur nächsten U-Bahn-Station laufen. Ich komme mit, aber mit dem Trolley im Schlepptau hängt sie mich mühelos und unbekümmert ab. Jedenfalls hat sie sich hier gut angepasst, denke ich. Jetzt wäre Michael praktisch. Gestern hat er mich fürchterlich gelangweilt mit seiner Leidensgeschichte. Seit Monaten schreibt er wie blöde Bewerbungen, er hat alle Bücher zweier namhafter Autoren gelesen und fängt langsam an, sich zu wundern. Warum gibt es für ihn, nach vier harten Jahren Arbeitserfahrung und einem schnellen Studium keine Arbeit? Michael jammert über die schlimme deutsche Lage – und schreibt stumpfsinnig weiter. Ich erzähle ihm von meiner Freundin Pia, die nach dem üblichen BWL-Diplom die üblichen hippen Praktika gemacht hat und dann drei übliche, individuellste Bewerbungen schrieb, die von eher klassischen Absagen gefolgt wurden. „Daraufhin ist sie ungeduldig geworden, hat ihre Sachen gepackt und ist nach Frankreich ausgewandert. Jetzt hat sie eine Job in Paris und will nicht mehr zurück kommen.“ „Ich soll nach Frankreich auswandern?“, hat Michael vorwurfsvoll gefragt und sich abgewandt. So frei, dem Bewerbungswahnsinn den Rücken zu kehren, ist er nämlich nicht. Freiheit muss man sich trauen. Weil frei sein mehr bedeutet als die Nummer eines Superstars zu wählen und sich für Gras oder Dope, Burger King oder McDonalds zu entscheiden. Frei sein heißt, die Anstrengung auf sich zu nehmen, einen Weg zu suchen, den niemand sonst finden kann. (Weil es der eigene Weg ist – und außer dir niemand du ist.) Wir würden dann nicht zwischen Möglichkeiten der Scheinfreiheit wählen, sondern die Möglichkeiten selbst bestimmen. Dann müssten wir auch nicht mehr so verzweifelt versuchen, individuell zu erscheinen. Wir wären es. Aber das kostet Mut. Und nicht nur Michael hat zuviel Angst, seine Scheinfreiheit zu verlieren. Ganze Staaten fürchten sich offensichtlich davor, dass dieser Wert der westlichen Welt abhanden kommen könnte. Weil unsere Freiheit bedroht wird. Sagen Leute, denen wir glauben, dass sie wissen, wovon sie reden. Auch wenn wir keine Ahnung haben, wer sie sind, sie müssen recht haben. Immerhin können wir die Bedrohung sogar fühlen: Wie ich, heute Mittag, in Frankfurt am Flughafen. Fraglos spreizten die Menschen vor mir ihre Beine, zogen ohne Murren die Schuhe aus und sahen sich interessiert das Lehrvideo an, das uns auf fünf Bildschirmen korrektes Verhalten vorführte. Der Mann mit Glatze vor mir musste auspacken: Die Spezialzahnbürste für seine Zahnspange darf nicht ins Handgepäck, sie muss in den Plastikbeutel. Er konnte zu wenig Englisch, um nachzufragen, aber ich half gern aus: Wo genau die gefährliche Flüssigkeit in der Bürste zu finden sei? Der Mann hinterm Band schüttelte nur den Kopf: „Policy“. Und deshalb durfte ich auch auspacken. Grinsend findet er in einem Wust von Kabeln und Wäsche meinen rosa Vibrator. Ich wäre doch frei gewesen, den zu Hause zu lassen, oder nicht? Ich kann mich doch glücklich schätzen, dass ich reisen darf. Im Tausch dafür darf der Mann alle meine Siebensachen einmal befummeln. Zu meiner Sicherheit. Um die Bürger vor dem schwarzen Mann zu schützen, an den wir alle glauben gelernt haben. In England selber ist man noch besorgter: Wozu sonst gibt es hier mehr als 4.2 Millionen Überwachungskameras? Mich müssten sie auf meinem Weg schon mehr als 200 Mal aufgenommen haben (ja, es ist weit und der Trolley schwer). Bald werden die Kameras sogar Ohren haben und auf lauter werdende Stimmen und schnelles Sprechen reagieren. In Holland gibt es das schon, werden die Menschen laut, kommt die Polizei. Dann würden die Italiener an der U-Bahn mir nicht helfen, mein Gepäck die Treppe hinunter zu tragen – sie müssten Rede und Antwort stehen (quiet, please). Dieser Sicherheitswahn schafft vor allem noch mehr Furcht – noch weniger Freiheit. Aber wir halten still und ertragen, aus gutem Grund: Faulheit. Wir lassen gern andere entscheiden. Das geht sogar so weit, dass unsere Gesetze zu 84 Prozent nicht mehr in Deutschland gemacht werden, sondern in Brüssel. Dass wir eine Verfassung ratifizieren, die niemand tatsächlich gelesen hat. Die wir sogar gegen den Willen unserer Nachbarn durchsetzen wollen. Nicht die Bürger, die EU entscheidet: Vom Arbeitsrecht bis zum Porzellanschaf. Die Ideen dafür stammen von Politikern, die nicht dafür gewählt wurden und von Menschen, die gar nicht gewählt wurden und von Konzernen, die ehrenamtlich in Brüssel aushelfen. Ein gewisses Unbehagen beschleicht uns schon, wenn wir merken, dass wir nicht einmal wissen, wie diese Union funktioniert. Und wir können richtig ärgerlich werden, wenn wir an den Euro denken. Aber: Was soll man da schon tun? Wo soll man anfangen? Wir könnten anfangen, uns Gedanken um die Welt da draußen zu machen. Wir könnten echte Mitbestimmung fordern. Dann wären wir auf uns und unsere Ideen gestellt und würden nicht mehr von Angst und Faulheit bestimmt. Ist das zu schwer? Als ich aus der Bahn steige, regnet es. Ich denke an den Schlüssel auf Pauls Küchentisch. Mein Kater hat sich getrollt. Niemand da, der mir den Koffer trägt. Macht Freiheit also einsam? Bevor ich mich das frage, will ich erst einmal versuchen, frei zu sein. Ich trage mein Gepäck allein und hoffe, dass jemand da ist, der mir die Tür aufmacht.

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