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Macht Freiheit einsam? Die Plätze 4 und 5 des Essay-Wettbewerbs

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Platz 4: Doris Anselm mit „Lauter Miss Sunshines“ Holm Keller, Kulturmanager und Dramaturg, ist derzeit Kanzler der Universität Lüneburg und Mitglied der Jury. Über Doris` Text schreibt er: „Anselm setzt die „Digitalprekariatbohème“ samt Diskursanhang als kreative, trendy, sexy und irgendwie teilweise deprimierte und besorgte Busreisegesellschaft orginiell in Szene. Ein komprimiert geschriebener Essay ohne verkomplizierende Ausführungen.“ Manchmal ist Zeitunglesen wie Kino. Besonders, wenn man über die Zukunft der Arbeit, die jungen Deutschen, ihre Lebensläufe, Ängste und Chancen liest. Das sieht dann auf der Leinwand im Kopf so aus: Die jungen Deutschen sitzen in einem großen gelben Bus. Darin werden sie zum Schönheitswettbewerb gefahren. Wie die kleine Tochter in „Little Miss Sunshine“ – nur dass die Tochter fünfundzwanzig ist, der Schönheitswettbewerb ein Bewerbungsmarathon und die Mitreisenden alles andere als eine Familie. Mit im Bus hocken Journalisten, Sozialwissenschaftler und Fernsehmoderatorinnen, und alle reden kreuz und quer über dieses eine Thema, dieses aufgeladene, deprimierende, persönliche, öffentliche, dieses gemütserregende und dabei so ätzend langweilige Thema: Die Zukunft „unserer Besten“, womit meist die jungen Akademiker gemeint sind, was an sich schon unverschämt ist, woran sich aber kaum jemand stört, ebenso wenig wie an der Feststellung, Deutschland produziere ja genügend Kinder, nur leider die falschen. Die Tochter ist verwirrt, lächelt, sie kann alles und macht es auch, bekommt aber nie Geld dafür, und eigentlich würde sie lieber mal wieder mit ihrer Mutter reden, anstatt den Fernsehmoderatorinnen, Sozialwissenschaftlern und Journalisten zuzuhören. Aber Mama durfte nicht mitfahren, denn sie unterscheidet sich von der Besatzung des gelben Busses vor allem dadurch, dass sie die zum Diskurs notwendigen digitalenprekariatsbohème-Worthülsen gar nicht kennt und sich noch immer bloß schlicht darüber erregt, „dass die Dir nichtmal die Monatskarte bezahlt haben!“ Ach ja, das war letztes Jahr, in Berlin, als die Tochter für eine große Zeitung den ganzen Tag herumgefahren war auf ihrer teuren Monatskarte, um mit Prominenten Ostereier zu bemalen. Aufregend war das gewesen. Nur frei hatte sie sich nicht so gefühlt, und frei hatte sie irgendwie auch selten gehabt. Ihr Studium schrieb drei Pflichtpraktika vor, und da die anderen Zeitungen als Voraussetzung für ein Redaktionspraktikum mindestens zwei Redaktionspraktika angaben, war die Tochter schließlich auch nur halbfreiwillig bei der großen Zeitung in Berlin gelandet. Wo es ihr dann doch ganz gut gefiel, obwohl sie wieder kein Geld bekam. Wenn sie nur nicht so einsam gewesen wäre! Natürlich trat sie keinem Sportverein und keinem Kirchenkreis bei für die acht Wochen. Sie trat den öffentlichen Bibliotheken bei, das war immerhin auch etwas, schließlich gibt es „keine vollkommenere Harmonie als die zwischen einem Menschen und einem Buch“, wie eine Fernsehmoderatorin, die jetzt auch mit im Bus sitzt, es hübsch gesagt hat. Abends fuhr die Tochter mit ihren Leihbüchern zurück in ein Wohnheimzimmer in Berlin-Lichtenberg und aß Schnittchen, die sie sich mittags auf einer Pressekonferenz der großen Zeitung in eine Serviette gewickelt hatte. Sie tröstete sich: Immerhin gehörte sie zur Avant-Garde, hatte ganz neue Chancen und Möglichkeiten. Jetzt sitzt sie im gelben Bus, auf dem Weg zum nächsten unbezahlten Praktikum, und ist sich nicht mehr so sicher. Doch ihre Mitreisenden helfen ihr gern weiter: „Natürlich gibt es auch Einbußen und Gefahren“, spricht der Sozialwissenschaftler ruhig – „Die Schattenseiten alles Neuen!“, fügt der Journalist hinzu, und ihm läuft ein Schauer über den Rücken – „Aber denk doch nur an die Vorteile!“ empfiehlt enthusiastisch die Fernsehmoderatorin. Das soll die Tochter motivieren und sie beruhigen. Tut es aber nicht. Wieso nicht? Ganz einfach: Die vielen guten Dinge, die ihr als brandheiße Pro-Argumente für die „Neue Flexibilität“ aufgezählt werden, sind nicht wirklich neu. Den eigenen Wohnort kann man nun schon seit dem Ende des Feudalsystems frei wählen, den Partner ebenfalls, und Berufe werden auch kaum mehr über Generationen vererbt. Reisefreiheit, Ungebundenheit, Ausstieg aus erstickenden Dorfgemeinschaften: Alles alte Hüte. Neu ist nur die Coolness, die diesen angestaubten Freiheiten plötzlich zugeschrieben wird. Warum bloß sind sie mit einem Mal so hip, warum verschnürt man sie zu einer solchen „Nichts-ist-unmöglich“-Ideologie? Vielleicht geht es gar nicht um Freiheit als freien Willen, sondern eher um Charakterzüge, die heute allgemein mit „Freisein“ gleichgesetzt werden: Mobilität, Ungebundenheit, ständige Offenheit für Veränderungen. Und wahrscheinlich hat das etwas mit sozialer Erwünschtheit zu tun. Damit, dass eine Gesellschaft gezielt solche Einstellungen erzeugt und stärkt, von denen sie meint, sie aktuell gebrauchen zu können. Flexibilität kann sie gebrauchen, denn „flexible“ Bürger sind in Wahrheit fügsame Bürger: Die meisten ziehen nicht aus unbändigem Freiheitsdrang in eine andere Stadt, sondern weil Job oder Jobsuche es ihnen gebieten. Doch das Mäntelchen der Freiheit steht der Kandidatin „Flexibilität“ so ausgezeichnet, dass niemand nachfragt; sie sieht so schick aus mit dieser Aura von American Dream und jugendlichem Geist. Wir können also „reisen, feiern, leben“. Wir können umziehen, umsatteln, umdenken. Doch das Alles hat einen Haken: Das schlichte Aneinanderreihen von Dingen, die man in einem Land tun kann, beweist nicht dessen hohen Grad an Freiheit. Für echte Freiheit muss es immer auch möglich sein, das Gegenteil dieser (aktuell propagierten, sozial erwünschten) Dinge zu tun. Freiheit ist eben auch: das Badewasser einlassen und dann nicht baden. Die Tochter im Bus horcht auf: So etwas klingt schon gar nicht mehr selbstverständlich – eher verschroben: Die Freiheit, ein Leben lang in einer Stadt zu wohnen. Die Freiheit, sich früh für eine monogame Beziehung mit mehreren Kindern zu entscheiden. Die Freiheit, NICHT zu feiern. Sicher kann man diese Wege noch immer einschlagen, doch der Preis, den man für solche Selbstbestimmung zu zahlen hat, wird mit Kalkül immer höher angesetzt: Nach staatlichen Sanktionen kommt gesellschaftliche Ächtung. Und während Ratgeberliteratur, Campus-Magazine und Online-Businessclubs wie Pilze aus dem Boden schießen, wird die Tochter auf dem Rücksitz immer stiller. Sie wollte doch Miss Sunshine sein und alles richtig machen! Vielleicht wollte sie auch rebellieren, doch nach der langen Fahrt im gelben Bus weiß sie das nicht mehr so genau. Sie legt die Hände in den Schoß und hört zu, wie über ihre Lage befunden wird. Inzwischen ist sie so voller „German Angst“, dass sie sich an der nächsten Autobahnraststätte gleich auch einen Ratgeber kaufen will. Vielleicht unterzeichnet sie später noch irgendeine Petition und bezahlt trotzdem brav ihre Studiengebühren. Und im nächsten Schönheitswettbewerbungsgespräch traut sie sich nicht einmal, dem Personaler ins Gesicht zu lachen, als der ihr für den unbezahlten Job ans Herz legt: „Lassen sie sich doch von ihren Eltern unterstützen.“ Sozialwissenschaftler, Fernsehmoderatorin und Journalist debattieren unterdessen weiter. Die Tochter hört vom Rücksitz aus zu und macht sich Sorgen. Vielleicht wird es Zeit, dass sich die Töchter ans Steuer setzen. Und mit den Töchtern sind auch die Söhne gemeint. Auf der nächsten Seite liest du den Essay von Maximilian Jaede, 21 Jahre. Der Titel lautet „Macht Freiheit einsam?“ Maximilian hat damit im Wettbewerb Platz fünf belegt.


Platz 5: Maximilian Jaede, 21, mit „Macht Freiheit einsam?“ Anne Zielke ist Journalistin und Autorin, außerdem Mitglied der Jury. Über den Text schreibt sie: "Maximilian analysiert die Unlust am Risiko und eine Individualität, die sich in jenem Paradox verhakt hat, daß alle etwas Besonderes machen - aber in dieser Besonderheit letztendlich alle das Gleiche. Stattdessen soll der Einzelne wieder mehr wagen. Ein Plädoyer für die Möglichkeiten einer liberalen Gesellschaft. Mir gefallen vor allem die Stringenz des Essays und sein Tempo." Früher wollten junge Menschen die Welt verändern; sie glaubten an große Ideale und warfen Steine auf die Gesellschaft. Zwischenzeitlich war jungen Menschen die Welt erst ein Mal egal, solange der Dispo mitspielte. Heute blicken junge Menschen auf die Welt wie Abhängige, zweifeln, ob sie ihr Glück noch selbst in der Hand haben. Und fragen, da sie die Antwort nicht kennen: Ist es die Freiheit, die einsam macht? Die Freiheit, die uns zwingt, flexibel zu sein und individualistisch, die uns Angst macht? Frei sind wir also. Politisch und rechtlich tatsächlich nicht viel freier, als es bereits unsere Eltern waren. Neu ist jedoch die Vielfalt, aus der wir wählen können und entscheiden müssen. Beinahe jedes Land dieser Welt können wir bereisen, oder uns per Mausklick die Welt nach Hause holen. Wir können mehr Berufe erlernen, zwischen mehr Studiengängen wählen, als jemals zuvor. Müssen aber auch Entscheidungen treffen, die sich früher gar nicht gestellt haben: über den richtigen Studienkredit, die passende Altersvorsorge. Neu ist auch: Freiheit auf eigene Gewähr. Das soziale Netz gibt es noch, aber es hängt ziemlich weit unten. Entscheiden bedeutet also ein Risiko eingehen, und so lassen wir es oft einfach sein. Lassen uns treiben, von einem Trend zum nächsten Trend. Kaufen heute einen iPod, eröffnen morgen ein Weblog. Schwenken heute Friedensflaggen und grölen morgen die Nationalhymne. Wir treiben in den so genannten Jugendkulturen vor uns hin, obwohl Kinder schon lange "Sie" zu uns sagen. Oder treiben hin zu den neuen, alten bürgerlichen Werten. Weil wir uns aber so viel Mühe geben mit unserem Individualismus, nehmen wir das gar nicht mehr wahr. Das Treiben geht soweit, dass wir uns selbst bei unserer Lebensplanung auf andere verlassen, auf Rankings und Ratschläge zu vermeintlichen Zukunftschancen. Gab es früher 80 Millionen Bundestrainer, so gibt es heute ebenso viele Berater für optimale Lebensläufe. Weil wir deren Halbwissen glauben, sagen wir zu uns: Eigentlich würde ich ja gerne zum Film. Oder Entwicklungshelfer werden. Gerne auch mit Kindern arbeiten, das liegt mir. Erst mal studiere ich jetzt aber BWL. Und obwohl wir, die selbst ernannte „Generation Praktikum“, unentwegt klagen, wie sehr wir ausgenutzt werden, absolvieren wir ein Praktikum nach dem anderen; während des Studiums – oder sogar schon davor. Uns fehlt der Mut zur Freiheit, der Mut, unsere Freiheit zu nutzen. Wir fürchten, dass wir falsch entscheiden, dass wir am Ende zu den Verlierern der Freiheit gehören. Woher kommt diese Angst? Generationen vor uns hatten jeweils ein Ereignis, das sie prägte, beispielsweise Tschernobyl, den Krieg. Man könnte den 11. September derart deuten – und missverstehen. Denn während Deutschland Frieden schaffen und Atomreaktoren abschalten konnte, kann die nächste Bombe jederzeit und überall hochgehen. Der 11. September war alles, nur keine Chance, um Gewissheit zu schaffen, um neu anzufangen. Er bestätigte nur, was wir bereits gelernt hatten: Nichts ist mehr sicher, die Zukunft ungewiss. So haben wir erlebt, wie Landschaften, die einmal blühen sollten, zu No-Go-Areas geworden sind. Wir haben erlebt, wie die New Economy crashte und die Generation Golf plötzlich mit dem Bus fuhr. Wie Menschen, die wir kannten, ihren Job verloren und keinen neuen fanden. Auch, was die Zukunft bringt, wurde uns eingebläut: das Klima kollabiert, die Kulturen bekämpfen sich und selbst unsere Rente ist nicht mehr sicher. Viele von uns haben schließlich die eigene Sicherheit Zuhause, in der Familie verloren. Wir sind in einem Ausmaß wie keine Generation vor uns von Trennungen unserer Eltern betroffen gewesen, von psychischen Krankheiten und Gewalt in der Familie, von materieller Armut, zumindest für eine gewisse Zeit. Jeder von uns hat gesehen oder sogar selbst erfahren, was es heißt, plötzlich zu den Verlierern zu gehören, sich ausgeschlossen zu fühlen. Und zwar jeder für sich, nicht in der Gemeinschaft, wie etwa die Nachkriegsgeneration die Armut erlebt hat. Wer jedoch seine Probleme, seine Ängste offen legt, tut dies in Talkshows im Unterschichtenfernsehen. Gewinner sehen anders aus: sehr glatt, sehr smart. Sie verfügen über ein gutes Netzwerk unverbindlicher, aber nützlicher Kontakte und funktionieren scheinbar immer. Vom Smalltalk-Seminar bis zum Ratgeber für das stilvolle Verarmen – der Schein bestimmt das Bewusstsein in unserer Gesellschaft. Und so versuchen auch wir uns stets von unserer besten Seite zu zeigen: auf der Party, im Büro, in der Internet-Community. Versuchen, um jeden Preis Erfolg zu haben, um nicht zu den Verlierern zu gehören. Hinter dieser Fassade fühlen sich viele von uns einsam. Haben das Gefühl, die Last ihrer schweren Gedanken mit niemandem teilen zu können, selbst nicht in der Beziehung, in der Familie. Fühlen sich unverstanden, ungeliebt, alleine auf der Welt. Das Allensbach-Institut hat ermittelt, dass sich immerhin 30 Prozent der Deutschen häufig oder manchmal einsam fühlen. Wie Studien gezeigt haben, liegen die Ursachen dieser Einsamkeit zumeist in Kindheitserfahrungen. Vielleicht sind wir daher prädestiniert, einsam zu werden? Oft braucht es nur noch einen Anlass: Wenn der Freund, die Freundin Schluss macht, wenn mal wieder niemand eine E-Mail oder SMS schreibt, obwohl wir doch immer erreichbar sind, kriecht die Einsamkeit hervor. Und weil wir die Gründe nicht bei uns selbst sehen wollen, denken wir: Kapitalismus! Soziale Kälte! Ellenbogenmentalität! Zum Teufel mit der Freiheit! Dann sehnen wir uns nach einer einfachen, heiteren Welt. So, wie wir sie aus der IKEA-Werbung kennen, in der sich Menschen fröhlich an den Händen fassen und um den Midsommer-Baum tanzen. Damals, in der Großfamilie, auf dem Dorf, im Sozialismus, waren die Menschen zwar weniger frei, aber auch weniger einsam, denken wir – weil wir nie erfahren haben, wie erdrückend Enge sein kann. Diese Enge, wegen der die Intellektuellen seinerzeit die Einsamkeit verherrlichten. Wir können uns nicht vorstellen, was es heißt, wenn Freunde nur aus Gewohnheit befreundet sind und Ehen arrangiert werden. Oder der Nachbar für die Stasi arbeitet. Es ist sogar empirisch belegt, dass ausgerechnet die freien, flexiblen Großstädter über die vielfältigsten sozialen Kontakte verfügen. Und wie einsam sich weniger freie Menschen in früheren Zeiten gefühlt haben, lässt sich nicht abschätzen. Die Einsamen sind mit ihrer Einsamkeit allein – das galt früher wohl noch mehr als heute. Denn erst unsere individualistische Gesellschaft rückt die Einsamkeit als Massenphänomen in den Blickpunkt. Nicht der Individualismus macht einsam, nicht der Druck, flexibel zu sein, ständig zu entscheiden. Anstatt zu viel äußerer Freiheit ist es zu wenig innere Freiheit und Autonomie, warum wir Angst haben und einsam werden. Wir haben gelernt, dass nichts mehr sicher ist und wir die Risiken unseres Lebens selbst tragen müssen. Wie wir damit umgehen können, hat uns niemand beigebracht. Also hetzen wir auf ausgetretenen Pfaden einer möglichst sicheren Zukunft entgegen; zweifeln ständig, welche nun die richtige Abzweigung ist. Dabei könnten wir fliegen, wenn wir den Mut hätten abzuheben – und eventuell wieder abzustürzen, auf den tristen Boden der Tatsachen, auf dem wir uns heute bereits treiben lassen. Vielleicht würden wir so jedoch mehr Übersicht gewinnen, mehr Haltung, mehr Mut, mehr innere Freiheit. Denn nur so können wir mit der Einsamkeit leben – oder sie überwinden. Auf der nächsten Seite liest du den Text „Zu ewiger Jugend verdammt“ von Juliane Schumacher. Sie ist 25 Jahre alt und studiert in Berlin. Der Beitrag brachte ihr Platz sechs im Wettbewerb.
Platz 6: Juliane Schumacher, 25, mit „Zu ewiger Jugend verdammt“ Dr. Gunther Schwarz ist Senior Vice President der Boston Consulting Group und Mitglied der Jury. Er schreibt zum Text: „Eindrucksvoll schildert Juliane Schumacher, wie drei von ihr skizzierte gesellschaftliche Gruppen durch die Orientierung an dem "Pfeiler der Ökonomie" im Rahmen der scheinbaren Freiheit Einsamkeit ernten: die Gewinner durch soziale Verarmung, die Verlierer durch Verdrängung an den Rand der Gesellschaft und die Überlebenskünstler durch den permanenten Zwang zu wählen zwischen Freiheit und und Fortkommen. Die Frage, wann und wie wir erwachsen werden, lässt die Autorin unbeantwortet – und regt damit zu einer kritischen Auseinadnersetzung mit der beschriebenen Situaiton an.“ Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich den Ängsten und Hoffnungen einer Generation zu nähern. Man kann bei den Soziologen, Psychologen und Politologen anklopfen, Abstracts und Analysen lesen, vor Fremdwörtern strotzende Zitate aneinanderreihen. Man kann sich auch in eines der Cafés setzen, die im Halbjahrestakt öffnen und wieder schließen, am Latte Macchiato nippen und den Gesprächen am Nebentisch lauschen. In sich hineinhören, die eigenen Erfahrungen aufrufen, sich an die Geschichten erinnern, die Freunde, Bekannte, Mitbewohner erzählen. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht allzu sehr. Wir, Generation Praktikum – Laptop auf den Knieen, Handy am Ohr, immer erreichbar, flexibel, wunderbar harmlos und erschreckend naiv – sind zutiefst verunsichert. „Mensch, wenn ich die Möglichkeiten gehabt hätte, die du heute hast!“ sagte mir mein Vater noch vor wenigen Jahren. Das war in den 1990ern, als uns die Welt offen stand, das Beste für uns bereit hielt. Die Revolutionen der Siebziger hatten ihren Weg in die Arbeitswelt Europas gefunden. Die erschreckende Vorstellung, 50 Jahre den selben stupiden Job zu machen, sich mühsam in der Hierarchie nach oben zu arbeiten, wich verlockenden Aussichten auf immer währende Kreativität und Selbstverwirklichung. Selbstständiges Arbeiten im Team statt entfremdeter Arbeit unter Aufsicht, wechselnde Projekte und neue Orte statt der Enge der immer gleichen Umgebung. Wir alle als Künstler, und das Kunstwerk, das wir gestalten: unser Leben. Der Morgen nach der Party kam mit Kopfschmerzen. Denn die schier unbegrenzten Möglichkeiten dieser schönen neuen Welt hatten ihren Preis. Einen Preis, der erst nach und nach hinter all den Versprechen zum Vorschein kam, und weiter steigt. Die alten Sicherheiten, die Gewissheit, dass man so tief schon nicht fallen kann, dass, irgendwie, alles immer wieder besser wird, sind unter dem Siegeszug neuer Wirtschaftsdoktrinen zu Boden gegangen. Das sorgsam im Gleichgewicht gehaltene System der Nachkriegszeit ist in den Fluss geraten, und, die Dämme einmal gebrochen, in die Wogen des Ungewissen gerissen worden. Wir sind frei, frei von Sicherheiten und Maßstäben. Wir haben alle Freiheit von, aber keine Freiheit zu, alles ist möglich, alles ist gleichgültig. Zur Orientierung bleibt nur das Maß, das weiter gilt: die festen Pfeiler der Ökonomie. Der Kapitalismus hat die Krisen der Siebziger Jahre unbeschadet überstanden. Er hat sich der brachliegenden Felder bemächtigt, neue Gebiete erschlossen: die Körper, die Ideen, das Lächeln, das Gespräch. Den Reichtum in uns allen, die sozialen Kontakte, Ideen, die Phantasie hat er nutzbar gemacht. In den feinen Raum der zwischenmenschlichen Beziehungen hat sich das Interesse geschlichen. Wir alle haben es begrüßt, dass die harsche Trennung zwischen notwendiger Arbeit und Zeit der freien Entfaltung niedergerissen wurde. Wer erwartete schon, dass damit dem Ökonomischen die Tür geöffnet war und es das eigene Leben bis in die hinterste Ecke füllen würde, dass Arbeit auf einmal alles sein kann und alles sein muss, kein Rückzug, kein Versteck bleibt? Die ökonomische Logik hat sich so tief in uns hineingefressen, dass alles nicht-ökonomische Denken unlogisch scheint. Das Selbstmanagement ist so effektiv, das wir seine Grenzen gar nicht mehr umreißen können, wir investieren an gegebener Stelle, berechnen Opportunitätskosten, erfinden uns nach den Ansprüchen, die wir um uns ertasten. Wir wollen schnell fertig werden, im Ausland studieren, Chinesisch lernen, wir haben Lust auf dieses Praktikum. Die Grenzen zwischen Freiheit und Zwang verwischen, wollen und sollen lassen sich kaum mehr unterscheiden. Wohin auch? Gegen wen rebellieren, wenn wir die Zwänge längst selbst ausüben? Wogegen aufbegehren, wenn sich kein Zentrum der Entscheidung greifen lässt, jede Verantwortlichkeit sich im Dickicht der Netze verliert? Wir sind weniger die Generation Praktikum als vielmehr die Generation Hartz IV. Hartz IV, das ist die Drohung, die uns die Boulevard-Blättern lüstern ins Gesicht schreien, die uns auf dem silbernen Tablett der Feuilletons gereicht wird. Das Schicksal, das uns droht, wenn wir uns widersetzen, zu wenig flexibel sind, einen Fehler zuviel machen. Der Markt richtet, und er teilt nur in Gewinner und Verlierer: Menschen, Regionen, Nationen. Die alltägliche Erfahrung karikiert jede Hoffnung auf einen überparteilichen Staat, jede nostalgische Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die doch immer auf Ausschluss fußte – nur dass jetzt zu einem Außen ein Unten dazu gekommen ist. Und fallen kann jeder. Macht Freiheit einsam? Diese Freiheit ja. Einsamkeit wartet an beiden Enden. Das ist der Bekannte, ein Gewinner, der von Montag bis Freitag um die Welt jettet, am Freitagabend mit seinen Kollegen feiern geht und am Wochenende hilflos Telefonnummern wälzt, um jemanden zu finden, mit dem er sprechen kann. Da sind die anderen, Verlierer, die sich in der Abhängigkeit verfangen haben, für die eine kaputte Waschmaschine eine Katastrophe ist, die sich zurückziehen aus Wut, aus Scham, verbittert, überflüssig. Und da sind all jene dazwischen, Überlebenskünstler, die sich durch den prekären Dschungel hangeln, von befristeter Stelle zu Teilzeit zu Praktikum, Experten im Verkaufen ihres Produkts: sie selbst. Die immerzu abwägen: Wieviel Freiheit zum Nein bleibt, wieviel Beziehung, Familie, Freundschaft darf, muss das nächste Projekt kosten? Sie knüpfen soziale Netze, zerreißen sie, um weiter zu kommen. Die Konkurrenz treibt auseinander, was die Not zusammen zwingt. Es ist nicht die Freiheit, die wir uns erträumt haben. Ihr überdrüssig rudern wir zurück, schon winkt als großer Preis wieder der feste Job. Wir drehen uns im Widerspruch. Die alten Mittel müssen an den neuen Problemen scheitern. Die Energie, die Kraft, einmal freigesetzt, lässt sich nicht mehr ins enge Korsett fester Lebensläufe pressen. Und wer wollte das schon? Der Kapitalismus hält die Versprechen, mit denen er lockt, an sich bindet. Wir haben Freiheit bekommen. Und gemerkt, dass sie allein kein selbstbestimmtes Leben garantiert. Kinder waren wir im Paternalismus der vergangenen Jahrzehnte, der mit Brot und Schlägen für uns sorgte. Heute sind wir verdammt zu ewiger Jugend, auf immer Party, Höhenflüge, mobil und einsam, verzagtes Warten und Wundenlecken, dass der Prinz durch die Rosen prescht und uns erlöst. Werden wir erwachsen, irgendwann? Auf der nächsten Seite liest du den Text von Konrad Erzberger mit dem Titel „Einmal Freiheit – und zurück!“ Konrad, 20, leistet gerade seinen Zivildienst und belegte mit diesem Beitrag Platz sieben im Wettbewerb.
Platz 7: Konrad Erzberger, 20, mit „Einmal Freiheit – und zurück!“ Dirk von Gehlen ist Redaktionsleiter von jetzt.de und Mitglied der Jury. Über Konrads Text schreibt er: "Konrad stimmt einen nachdenklich. Er beschreibt Menschen, die konform gehen, die nur pseudo-individuell sind. Und ruft dazu auf, mehr Mut zu haben, die Freiheit zu nutzen, die einem zur Verfügung steht. Und ein Mensch zu werden, der sich nicht an anderen Menschen oder dem ökonomisch Richtigen ausrichtet. Ein anregender und ein wenig auch verstörender Text." „Nein, nein! Selbst machen will! Alleine, alleine!“, kreischte Anna wie am Spieß. Jeder kennt das: Irgendwann verlangen alle Kinder Selbstständigkeit. Sie binden sich selber die Schuhe, machen sich alleine fürs Bett fertig, gestalten eigene Spiele und sind dabei auch immer ein wenig stolz über ihre Fortschritte. Da ist der Mensch ganz Mensch. Das hatte bereits Schiller vor gut 200 Jahren bemerkt: „Er [Der Mensch] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“. Aber: kann er das heute überhaupt noch? Mittlerweile ist Anna kein Kind mehr. Die Welt um ihr karges Kinder-zimmer ist gestählt und gefräßig. Längst prasseln jeden Tag 3000 aggressive Werbebotschaften auf ihr zartes Gehirn - der Großteil davon unbemerkt. Leise und stetig zersetzt jedes Lächeln, jede Verheißung und jede geweckte Sehnsucht die persönliche Willensfreiheit. Eine schillernde kulturindustrielle Welt um „Popstars“ und „Germany’s Next Top-Model“ schreit über den Äther nach Aufmerksamkeit. Jeder ist ein Gewinner, jeder ein Star. Die Illusion der eigenen Omnipotenz scheint perfekt. Anna wurde um ihren kindlich-naiven Willen zur Unabhängigkeit betrogen. In der durchrationalisierten Technikwelt des 21. Jahrhunderts ist Freiheit kein Mehrwert. Individualität und Un-abhängigkeit tauchen höchstens als leere Floskeln einer verzerrten Irr-Realität auf. Staaten gestehen ihren Bürgern nach wie vor nur Scheinfreiheiten. Man scheut die Zentrifugalkraft eines Diskurses innerhalb einer wenigstens etwas direkteren Demokratie, wie der Teufel das Weihwasser. Auch transnationale Konzerne feuern Nebelkerzen aus allen Rohren ab. Werbung und PR – die effektivsten Waffen auf diesem Schlachtfeld – wiederholen gebetsmühlenartig bis zum Umfallen den Wert der eigenen Mitarbeiter und Kunden. Tatsächlich aber führt die radikale Arbeitsteilung zentralisierter Unternehmen zu einer Organisation der Arbeit, bei der der einzelne seine Individualität verliert und zu einem austauschbaren Rädchen in der Maschine wird. Was zurück bleibt ist nur ein lebloses und entkerntes Menschfragment, das sich keiner Freiheit erfreuen darf – und schon wenig später auch nicht mehr kann. Zugespitzt formuliert: Der Kapitalismus 2.0 braucht eine möglichst große Menschenmenge, die glatt funktioniert, deren Geschmäcker und Bedürfnisse vorhersehbar und im günstigsten Falle auch lenkbar sind. Er benötigt standardisierte Konfektionsmenschen, die selbst in ihrer Pseudoindividualität gesellschafts-konform sind, denn ihr innerer Antrieb ist, zu gefallen, keine tieferen Antagonismen austragen zu müssen, in Bewegung zu bleiben und den Erwartungen eben doch irgendwie gerecht zu werden. Und das hat Folgen. Noch nie war der Wert der Freiheit so sehr unter Druck wie dieser Tage. Zugegeben: Freiheit hat es nie gegeben. Freiheit als Zustand wird es auch wohl in Zukunft nicht geben, denn sie ist und bleibt nun mal ein zum Ausdruck kommender Wille, ist aber beileibe kein plumper Status quo. Seit dem 20. Jahrhundert sind die gesetzlich verbrieften Freiheiten „von“ etwas (Staat, Kirche, Familie) stetig in dem Maße gewachsen, wie die Freiheiten „zu“ etwas (die Bereitschaft des Einzelmenschen zur Änderung bestehender Verhältnisse) geschrumpft sind. Das Angebot steht im krassen Missverhältnis zur Nutzung garan-tierter Freiheiten. Der Befund erstaunt, denn noch nie gab es so viele effektive Möglichkeiten der Partizipation am Staat. Noch nie konnte man seinen Glauben so frei ausleben. Noch nie konnte man besser reisen. Noch nie gab es so viele Chancen, herrlichen Blödsinn anzustellen, ohne dafür belangt zu werden. Spirituell, sexuell, beruflich wie auch privat gibt es unzählige Gestaltungsmöglichkeiten. Doch diese Spielräume werden nicht genutzt. Ganz im Gegenteil: Je mehr gangbare Lebenswege zum Vor-schein kommen, desto größer die Sehnsucht, Teil der vermeintlich sicheren Herde zu sein. Interessanterweise kommt es innerhalb der Herde aber nicht zu einem erfüllenden Gemeinschaftserlebnis. Vielmehr trottet die Herde ohne Berührung parallel nebenher, geeint in dem Streben, das Denken, Fühlen und Wollen mit allen anderen Mitgliedern der Gruppe abzugleichen. Man nivelliert sich so um Null. Jedes Mitglied dieser fragilen Zweckgemeinschaft ist für sich genommen einsam. Sogar sehr einsam. Wie sollte es auch anders sein, wenn die Herde aus charakterlosen Wesen besteht? Wie sollen Reiz und Reibung entstehen, wenn Menschen alle Kanten schon selbst abgeschliffen haben? Charakterbildung außerhalb von Pseudoindividualität und Nachahmung bedingt Freiheit. Und damit meine ich täglich den Rhythmen des Lebens abgerungene Freiheit. Charakterbildung kann man insofern als Forschung betrachten, für die Alexander von Humboldt „Freiheit und Einsamkeit“ als wichtigste Voraussetzungen nannte. Diesen Weg zu gehen verlangt sehr viel Mut. Mut zu Eigenverantwortung und Widerspruch. Mut, andere Interessen und Gefühle zu verletzen. Mut, alte Mauern einzureißen und verbindlich an neuen Brücken zu bauen. Letztlich ist dieses Abenteuer aber der einzige Weg zu sich selbst und der Welt. Wer nach Freiheit strebt, kann auch Freiheit anderen zugestehen und sich unvoreingenommen anderen Menschen öffnen. Nur durch diese Emanzipation mittels Freiheitsstreben lässt sich die eingangs beschriebene Entmündigungsmaschinerie transzendieren. Wir alle waren doch mal wie Anna. Wir waren stolz auf das, was wir „selbst“ machen konnten. Wir haben gespielt und unsere Freiheit genossen. Wir waren alle mal innerlich sehr sehr glücklich und zurfrieden. Wer sagt denn überhaupt, dass das nicht wieder möglich ist? Auf der nächsten Seite liest du den Text von Alexander Tiefenbacher mit dem Titel „Macht Freiheit einsam?“ Alexander ist 29 Jahre alt und Promotionsstudent der Philosophie in München. Er belegt mit seinem Beitrag Platz acht des Wettbewerbs.
Platz 8: Alexander Tiefenbacher, 29, mit „Macht Freiheit einsam?“ Dirk von Gehlen ist Redaktionsleiter von jetzt.de und Mitglied der Jury. Über den Text von Alexander Tiefenbacher schreibt er: "Alexander beschreibt komplexe Gedanken sehr unterhaltsam, ohne dabei aber oberflächlich oder oberlehrerhaft zu werden. Er erläutert dem Leser die verschiedenen Freiheitsbegriffe und schafft es, seine These, dass nicht jede Freiheit einsam macht, nachvollziehbar herzuleiten." Ist es nicht einfach paradiesisch, wenn Du morgens aufwachen und einfach so in den Tag hinein leben kannst? Ausschlafen, duschen, frühstücken mit Ei und Zeitungslektüre, anschließend ein ausgedehnter Spaziergang über Feld und Wiesen. Und das nicht nur am Sonntag oder in den Ferien, sondern sieben Wochentage lang. Dieser Zustand vollkommener Ungebundenheit und Freiheit wird in ähnlicher Form von Nick Hornby in seinem Buch About a Boy anschaulich auf den Punkt gebracht. Hornby charakterisiert darin einen Menschen namens Will Freeman, der durch ein väterliches Erbe so reich geworden ist, dass er sich um nichts und niemanden in der Welt mehr wirklich zu kümmern braucht. Freeman scheint vollends autonom zu sein, kann seine Tage in freier Zeiteinteilung mit shoppen, Fernsehen und Restaurantbesuchen verbringen, dabei einen schneidigen Sportwagen fahren und sich gelegentlich von seinem Friseur die Haare durchstrubbeln lassen. Und so charakterisiert sich Freeman selbst auch gerne als Ibiza und versucht damit den Beweis anzutreten, dass es Menschen geben kann, die sich wie Inseln im Meer verhalten, losgelöst vom Festland im weiten weiten Ozean. Ist dies nicht der ideale Freiheitszustand? Doch Freemans Freiheit hat einen hohen Preis: Er führt ein Leben ohne Freunde, Familie oder nennenswertes Sozialleben. Als kurzlebige Kontakte zur Außenwelt genügen ihm ein paar gelegentliche Affären voll und ganz. Denn sobald es den Frauen dämmert, dass Freeman sich einzig seiner Unabhängigkeit verpflichtet fühlt, schwindet ihr Interesse abrupt und Freeman ist wieder alleine in seiner selbst gewählten Freiheitsutopie. Hornbys Darstellung eines ebenso freien wie einsamen Menschen wirft eine interessante Frage auf: Besteht der hier aufgezeigte Zusammenhang zwischen Freiheit und Einsamkeit notwendigerweise? Muss ein Zustand vollständiger Freiheit direkt in die Einsamkeit führen und wird die Einsamkeit damit gleichsam zum Preis der Freiheit? Wie aber kann die Freiheit, der wir allgemein einen objektiven Wert beimessen und die ein hohes Gut für jeden Menschen darstellt, zu so negativen Konsequenzen wie Einsamkeit und Isolation führen? Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, dieses scheinbare Paradox aufzulösen und zeigen, dass das bisher dargestellte Freiheitsverständnis unplausibel ist. Meiner Ansicht nach gibt es noch eine treffendere Charakterisierung des Wesens der Freiheit, in der Freiheit unabhängig von Folgeerscheinungen wie Einsamkeit und Isolation gedacht werden kann, wodurch ihr hohes Ansehen in Gesellschaft und Politik gerechtfertigt wird. Beginnen möchte ich dabei mit einer Analyse unterschiedlicher Assoziationen und Bedeutungen des Terminus Freiheit und ihrer allgemeinen Bewertung. Was uns zum Begriff der Freiheit reflexartig in den Kopf schießt, sind häufig intuitive Freiheitszustände, wie sie sich in den Lebensformen von Menschen widerspiegeln: eines Will Freeman beispielsweise, aber auch eines Lucky Lukes oder des Marlboromannes, die ebenso frei wie einsam durch die Prärie reiten. Neben diesen intuitiven Freiheitszuständen kursieren aber, insbesondere in unseren Diskursen in Gesellschaft und Politik, weitere, eher praktische Freiheitsbegriffe, die sich auf die konkrete Lebenswelt aller Menschen und ihr Selbstverständnis beziehen. Dazu gehören beispielsweise Freiheitsarten wie Gedankenfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Willensfreiheit, Handlungsfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und dergleichen mehr. Auf den ersten Blick scheinen diese praktischen Freiheitsbegriffe untereinander recht unterschiedlich zu sein. Welcher inhaltliche Zusammenhang könnte sich beispielsweise zwischen der Gedankenfreiheit und der Reisefreiheit nachweisen lassen? Auf der inhaltlichen Ebene gibt es tatsächlich wenige Übereinstimmungen. In formaler Hinsicht hingegen lassen sich die verschiedenen praktischen Freiheitsbegriffe sehr wohl auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Sie alle beinhalten die Freiheit, das zu tun, was wir wollen. So ist es das wesentliche Merkmal der Handlungsfreiheit, so zu handeln, wie ich es eben gerade will und nicht wie irgendjemand anderes es will. Und die Entscheidungsfreiheit ist dadurch gekennzeichnet, dass ich mich für etwas entscheiden kann, was meiner eigenen Überzeugung entspricht, und nicht der irgendeines Anderen usw. Die Willensfreiheit scheint somit das wesentliche Merkmal der praktischen Freiheitsbegriffe zu sein, die sich als das Hauptcharakteristikum aller anderen Arten von Freiheit nachweisen lässt. Zudem ist bemerkenswert, dass wir die Willensfreiheit als eines der höchsten Güter überhaupt betrachten, die es in einer Demokratie zu achten und zu verteidigen gilt, im politischen, sozialen oder privaten Bereich, da sie die wesentliche Bedingung unserer Autonomie und Selbstbestimmung darstellt. Wie verhält sich nun der intuitive Freiheitszustand eines Will Freeman oder Lucky Luke gegenüber dem formalen Freiheitsbegriff der Willensfreiheit? Haben wir es hier grundsätzlich mit zwei Arten oder Kategorien von Freiheit zu tun, oder lässt sich eine der beiden Freiheitsarten möglicherweise auf die andere zurückführen? Im Folgenden möchte ich gute Gründe dafür anführen, dass die Willensfreiheit der umfassendere und plausiblere Freiheitsbegriff ist, da sie die wesentliche Bedingung zur Wahl unserer Lebensart darstellt. Diese Vermutung möchte ich durch das Verhältnis der Freiheit zu unserem subjektiven Wertesystem begründen. So könnte es sein, dass der intuitive Freiheitszustand eines Will Freeman für manche Menschen tatsächlich ein höchst wünschenswerter Zustand gemäß ihren Überzeugungen und Werten ist, für Andere aber weniger eine Art der Freiheit beschreibt, als vielmehr ein Horrorszenario. Verfechter dieser Auffassung sehen in Hornbys Protagonisten nur ein armes, einsames und egozentrisches Würstchen, das weniger frei als vielmehr ein Gefangener seiner Selbstliebe ist, und das wir folglich vielmehr bemitleiden als beneiden sollten. Ob Freemans Zustand also für alle Menschen gleichermaßen einen Idealzustand der Freiheit beschreibt, kann aus guten Gründen bezweifelt werden, die ich mir nun näher ansehen möchte. Ob wir Freemans Freiheitszustand als ein Gut ansprechen oder nicht, hängt von unserem jeweiligen subjektiven Wertesystem ab, sprich von unseren Vorstellungen über ein gutes und erstrebenswertes Leben. Und genau dies birgt ein Problem für die Plausibilität intuitiver Freiheitszustände, da keine Lebensform denkbar ist, die für alle Menschen gleichermaßen ein Gut darstellt. Manche Menschen wollen vielleicht so leben wie Mr. Freeman, Lucky Luke oder der Marlboromann und betrachten diese Lebensformen als Ideale der Freiheit. Andere Menschen hingegen betrachten diese Daseinszustände als solipsistischen Supergau und würden stattdessen eine andere Lebensweise mit Familie, Freunden, einem geregelten Job, Kindern, Doppelhaushälfte und Altersvorsorge wählen. Die Attraktivität des intuitiven Freiheitszustandes ist damit immer schon abhängig von unserem subjektiven Wertesystem und scheint keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen zu können. Abschließend möchte ich daher zeigen, dass die Freiheit verstanden als Willensfreiheit die umfassendere Charakterisierung von Freiheit bildet, da sie nicht von unserem subjektiven Wertesystem eingeschränkt wird, sondern dass die Freiheit unseres Willens die Wahl eines Wertesystems und der entsprechenden Lebensart gerade erst ermöglicht. Der formale Freiheitsbegriff der Willensfreiheit erlaubt es uns, ein Leben gemäß unserer individuellen Präferenzen und Werte zu führen. So können wir uns gänzlich autonom dafür entscheiden, die Lebensform eines Will Freeman, des Marlboro-Mannes, eines Familienvaters oder eines Sozialarbeiters zu wählen. Ebenso sind wir frei, diesen Zustand von heute auf morgen zu ändern und eine neue, ganz andere und möglicherweise konträre Lebensform zu bevorzugen, ähnlich wie es Will Freeman am Ende von Hornbys Erzählung auch tatsächlich macht, indem er sich seinen Mitmenschen gegenüber öffnet, Freundschaften schließt und sich für seine Mitmenschen zu interessieren beginnt. Und genau in diesem Wahlvermögen besteht seine Freiheit. Freiheit verstanden als Willensfreiheit kann uns daher gar nicht einsam machen, da sie uns nicht sagen kann, von welchen Werten wir uns leiten lassen sollten oder welche Lebensform für uns die Beste ist. Lediglich unser subjektives Wertesystem könnte uns in die Einsamkeit führen, wenn wir anderen Interessen einen höheren Wert beimessen, als der Zeit, die wir mit unserer Familie und unseren Freunden verbringen. Die Wahl unserer individuellen Lebensform und unserer subjektiven Werte ist unsere freie Entscheidung gemäß unserem freien Willen, wodurch der freie Wille zum Wesen der Freiheit wird. Auf der nächsten Seite liest du den Beitrag von Andreas Christ. Sein Essay zu "Macht Freiheit einsam?" brachte ihm den 9. Platz ein. Andreas, 25, studiert Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Bamberg.
Platz 9: Andreas Christ, 25, mit „Macht Freiheit einsam?“ Dr. Gunther Schwarz ist Senior Vice President der Boston Consulting Group und Mitglied der Jury. Er schreibt zum Text: "Andreas Christ entwickelt eine Skizze des Freiheitsbegriffs am Beispiel der Generation Praktikum. Die Freiheit hat jedoch Voraussetzungen, deren wichtigste das Tragen der Verantwortung durch jeden einzlenen ist. [...] Andreas Christ plädiert für ein aktives Nutzen der Freiheitsgrade, die jeder einzelne für sich heute erarbeiten kann. Das Leitmotiv ist hier die Entscheidung "FÜR" eine Sache, das Eingehen einer inneren Verpflichtung, statt eines unreflektierten Verfolgens von Zwängen. Ein positiver Appell an die eigenständige Gestaltung des Lebensweges mit offenen Augen und abseits des Mainstreams." Den Aufbruch des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit postulierte Kant in der Aufklärung und unsere Gattung ist diesem Ruf gefolgt, hat sich in Gang gesetzt, die Ketten abzustreifen, die dem Individuum solange auferlegt worden waren. Erst langsam, wankenden Schrittes schüttelten wir die Vormundschaft von Staat und Kirche ab und mit neuer Leichtigkeit konnten wir noch schneller gehen. Verquere, neumodische Ideologien wie Kommunismus und Faschismus brachten uns nur kurz ins Straucheln, ihre Unmenschlichkeit bestärkte uns, nur noch schneller unseren Weg zu verfolgen, um schließlich in das neue Jahrtausend zu stolpern, frei von allem und jeden, schließlich sogar von der Gesellschaft und Familie. Es ist an der Zeit, einen Moment innezuhalten und zu fragen: Wo steht der moderne, westliche Mensch heute? Oder, um ein wenig spezieller zu werden und ein modisches Schlagwort zu verwenden, wo steht das verbrannte Wohlstandskind der Generation Praktikum heute? Nun, zuerst einmal steht es allein. Es ist flexibel, es ist mobil, es ist ungebunden, es ist lernbegierig und aufstiegsorientiert. Dass man mit diesen Attributen mühelos eine zeitgenössische Stellenanzeige verfassen könnte, lässt das dumpfe Gefühl aufkommen, dass wir irgendwo falsch abgebogen sind und uns auf unserer letzten Etappe des Freiheitsweges verlaufen haben. Oder wurden wir sogar in die Irre geführt? Reflexhaft möchte man das für reaktionäres Geschwätz halten, wir sind doch frei, wir können tun was wir wollen, glauben an was wir wollen, studieren was wir wollen, praktische Erfahrungen sammeln wo wir wollen. Wir können ins Einkaufszentrum fahren und kaufen was wir wollen, uns aus dem Internet ziehen was wir wollen, wir können unter Dutzenden Fernsehkanälen wählen, wir können überall Urlaub machen, in jeder Stadt wohnen, im Ausland studieren. Aber leben wir deshalb in großer Freiheit? „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will“, um hier Rousseau etwas sinnentfremdet, aber nichtsdestotrotz passend, zu zitieren. Wir stehen unter dem Zwang, in diesem Supermarkt des Lebens einkaufen zu müssen. Optionen haben wir, allerdings keine wirklichen Alternativen zum Angebot. Es sei denn, man will vor den Ladentüren auf dem harten Asphalt der Straße hausen. Und deshalb ist diese Freiheit eine falsche Freiheit, denn um sie zu genießen, müssen wir vor allem eins machen – Geld verdienen. Und Geld verdienen bedeutet, uns den Bedingungen des Marktes zu unterwerfen. Deshalb ist der freie Mensch unserer Tage größtenteils ein ökonomisch stromlinienförmiger Mensch. Alle sozialen Ecken und Kanten wurden abgeschliffen, um im rauen Wind der Berufswelt nicht zu bremsen. Die Folgen sind nicht ausgeblieben: Gefühle von Angst und Verlorenheit greifen um sich, Depression und Lebensphobie sind gesellschaftliche Phänomene geworden. Wenn man sich von allem losgemacht hat, kann man auch nichts mehr von anderen erwarten. Totale Freiheit bedeutet totale Verantwortung. Die Last der Verantwortung liegt ganz allein auf den Schultern des Individuums, und in unserer Gesellschaft bedeutet Verantwortung in erster Linie Verantwortung, erfolgreich zu sein. Es liegt an jedem selbst, seinen ökonomischen, sozialen und sexuellen Marktwert zu steigern. Und diese Bürde wiegt schwer in einer Zeit, in welcher die persönliche und materielle Verwirklichung in Arbeit nicht mehr selbstverständlich für jeden zu erreichen ist. Viele Langzeitarbeitslose der älteren Generation haben sich schon aufgegeben, für sie gibt es keine Verwendung mehr in der neuen rationalisierten Welt, während die Jungen fanatisch jeder Möglichkeit nachrennen, ihren hochgezüchteten Lebenslauf weiter zu frisieren. Die meisten haben schon verinnerlicht, dass die Unsicherheit das einzige ist, was in Zukunft sicher sein wird. Dieses unbestimmte Gefühl, unkalkulierbaren Lebensrisiken ausgeliefert zu sein, hat sich durch die Sozialstaatsdebatten der letzten Jahre verschärft. Der Wohlfahrtsstaat garantierte soziale Anonymität ohne Reue. Unabhängig von familiärer Herkunft ermöglichten Lernmittelfreiheit, Bafög und kostenlose Hochschulbildung jedem entsprechend seiner Fähigkeiten die freie Wahl des Berufwegs. Dabei wusste man sich auch als Verlierer des freien Marktes in Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit versorgt. Wenn aber das soziale Netz als Hängematte diskreditiert wird und die Leistungen allerorten zurückgeschraubt werden, dann wird der offene Lebenslauf wirklich zu einem gewagten Drahtseilakt. Abgesehen von der Frage, inwieweit unsere heutige Freiheit wirkliche Freiheit im Sinne von Autonomie ist - muss man sich nicht fragen, ob Individualisierung und Isolation nicht einfach nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind? Was, wenn der Preis der Freiheit nicht nur ewige Wachsamkeit ist, sondern auch Vereinsamung und Absonderung? Offensichtlich entfernt uns jede Form von Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit von unseren Mitmenschen. Das liegt in der Natur der Sache und ist insofern gut, als jeder für sich denken und über sein eigenes Schicksal bestimmen will. Niemand will in einen Zustand zurück, in dem ein absoluter Monarch, dogmatische Kirchenväter, ein despotischer Hausvater oder irgendeine Partei dem Individuum keinen Raum zur Entfaltung gaben. In der Geschichte unserer Zivilisation ist gerade die Würde und Souveränität des Einzelnen ein hart erkämpftes Gut, das kostbarer nicht sein könnte. Jedoch laufen wir Gefahr, diese Freiheit in einer Tyrannei der ökonomischen Freiheit zu verlieren. Für keinen ist es leicht, sich dem zu entziehen. Man steckt in einer Art Zwickmühle: Um nicht ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, muss man das Spiel mitspielen, in dessen Verlauf man nur zu leicht ins menschliche Abseits geraten kann. Wenn man sich das klarmacht, besteht vielleicht die Möglichkeit, ein Bewusstsein für die wahre Freiheit zu erlangen. Und das ist eben jene, die uns in die Lage versetzt, uns FÜR etwas zu entscheiden. Dass wir uns den ökonomischen Mechanismen unserer Welt nicht entziehen können, muss ja nicht heißen, ihrer Logik zu folgen. Die Freizügigkeit unserer Gesellschaft bietet uns die große Chance, uns aus freien Stücken zu verpflichten. Natürlich schränkt die Hingabe an eine Sache, eine Organisation oder andere Menschen unseren Handlungsspielraum ein. Aber was wir an Beliebigkeit verlieren, gewinnen wir vermutlich an Stärke gegenüber dem Unbill, der uns auf unserem Lebensweg entgegenschlägt. Auf der nächsten Seite liest du den Essay von Bernhard Peter mit dem Titel "Freie, einsame und ohnmächtige Existenz". Bernhard belegt damit Platz 10.
Platz 10: Bernhard Peter, 29, mit "Freie, einsame und ohnmächtige Existenz" Autorin und Jury-Mitglied Anne Zielke über den Text: "Von Mandelmilch zur Freiheit durch Gott zu kommen, das muss ihm erst einmal jemand nachmachen. Beim Hin und Her der Dialektik immer gespannt zu sein auf die Antworten, die dann zu Fragen werden; es ist ein höchst lehrreicher Ausflug in die Schule des Denkens. Und ein Text, der Freiheit letztendlich im religiösen Sinne aufgreift - eine Freiheit, die viele vergessen haben." Luc hält sein Glas Milch mit der rechten Hand umschlungen. „Warum trinkst Du denn immer Mandelmilch?“ John stellt seine Frage beiläufig. Seinen Blick läßt er dabei durchs Café gleiten. „Bei Mandel habe ich einfach ein gutes Gefühl.“ „Du könntest aber auch Banane oder irgend etwas anderes wählen.“ „Du hast Recht“. Luc blickt auf, während seine Hand noch immer das Milchglas umschlungen hält. „Die Wahl habe ich natürlich. Jedes Mal wenn wir uns im Café treffen, bin ich vor die Entscheidung gestellt: Mandel oder lieber nicht Mandel“ „Du könntest ja auch einen Kaffee oder ein Bier trinken.“ „Das ist wiederum richtig. Ich kann mich so oder so entscheiden. Der Entscheidungen sind unendlich viele.“ „Wenn Du aber ein Antialkoholiker bist, dann kannst Du kein Bier trinken!“ John mag es, mit Luc über Philosophie zu diskutieren. Luc verbringt Unmengen seiner Zeit mit dem Studium philosophischer Werke. „Könnte ich doch. Keiner kann es mir verbieten!“ „Aber es wäre doch nicht gut für Deinen Körper. Du würdest es doch nicht tun?“ Johns Stimme klingt besorgt. „Schon möglich, dass ich es nicht tun würde. Aber prinzipiell kann ich mich auch als Antialkoholiker für ein Glas Bier entscheiden. Die Möglichkeit der Entscheidung sagt nichts über die Qualität der Entscheidung aus. Jeder würde Dir beipflichten und sagen: So ein Blödsinn. Aber die Möglichkeit nach Bier zu greifen besteht in jedem Augenblick.“ John rührt in seinem Milchkaffee. „Du hättest Dich doch heute auch für eine Mandelmilch entscheiden können. Nur als Beispiel.“ „Ich habe mir da nicht so die Gedanken gemacht. Ich habe einfach bestellt. Aber natürlich: die Mandelmilch hätte ich auch ordern können.“ „Siehst Du. Der Mensch kann entscheiden. In seiner Entscheidung ist er frei.“ John fährt sich mit der Hand über die Stirn. „Frei? Was verstehst Du unter Freiheit?“ „Freiheit ist reine Möglichkeit. Der Mensch muß sich nur seiner Möglichkeiten bewußt sein. Er muß sich seiner Freiheit wahrhaft werden. Dann kann er entscheiden.“ John hebt die Hand und winkt ab. „Du willst jetzt wieder die Gefangenen in Deinem Gefängnis ins Spiel bringen. Welche Freiheit haben sie denn? Das willst Du mich doch jetzt fragen?“ „Ich sehe durchaus ein, daß Du bei der Entscheidung zur Mandelmilch frei warst. Ich war es genau so bei der Wahl des Milchkaffees. Wir waren frei bei der Wahl des Cafés, bei der Terminierung unseres gemeinsamen Frühstücks... Aber der Gefangene. Er lebt doch in einem Reich der Unfreiheit?“ Luc hebt das Glas an seinen Mund. Aber ohne zu trinken stellt er es wieder vor sich hin. „Der Mensch wird in die Welt geworfen. Wenn wir diese Geworfenheit, seine Geburt betrachten, dann ist er in diesem Moment nicht frei. Geworfen-Sein, das impliziert ja ein Maß an Unfreiheit. Du als Theologe magst da vielleicht wieder einen anderen Standpunkt haben. Aber abgesehen vom Lebensentwurf sind alle Folgeentscheidungen zur freien Disposition.“ John schüttelt den Kopf. Er will intervenieren, aber Luc will seine Erörterung fortsetzten. „Jeder Gefangene ist doch seines eigenen Glückes Schmied. Er hat Handlungen ausgeführt. Er hat Entscheidungen gefällt, die zur Folge hatten, daß er dort gelandet ist, wo er jetzt ist. Und zwar hinter Gittern. Das war doch sein eigener Wille. Vielleicht war er sich seiner Entscheidungsmacht nicht bewußt. Aber er hatte sie zweifelsfrei.“ Luc nimmt nun sein Glas erneut in die Hände und führt es zu seinen Lippen. Dabei lächelt er, da er vermutet, John könne seiner Argumentation nicht widersprechen. „Da steht es wohl Eins zu Null für Dich, Luc. Wenn ein Mensch für seine Straftaten verantwortlich gemacht wird, so bedeutet das doch, dass er bei der Ausführung dieser freie Entscheidungsmacht hatte, wie Du sagtest.“ John macht eine kurze Pause. Er blickt zum Fenster. Düster ist der Herbst, denkt er sich und meint dann zu Luc. „Wenn der Gefangene nun aber im Reich der Unfreiheit gelandet ist, dann ist er unfrei!“ Luc fällt ihm sofort ins Wort. „Die Freiheit des Menschen hört nie auf. Des Menschen Freiheit sind keine Grenzen gesetzt. Das Dasein des Menschen ist ein Sein zum Tode. Aber bis dahin kann er entscheiden. Der Mensch entscheidet täglich, stündlich und in jedem Augenblick.“ John erhebt seine Arme. Wie ein Priester, der er ja zweifelsfrei auch ist, scheint er Luc beschwören zu wollen. „Was kann der Gefangene denn entscheiden? Er wird geweckt. Ob er länger schlafen will, interessiert keinen. Sein Tagesablauf wird ihm von Außen aufoktroyiert. Im Extremfall bleibt er lebenslänglich im Reich der Unfreiheit oder er wird sogar zum Tode verurteilt. Ja, wo bleibt denn da seine Freiheit? Er hatte sie vielleicht. Nun scheint sie verspielt zu sein.“ Luc lächelt verschmitzt. Er scheint nicht geschlagen zu sein. Es scheint ihn zu amüsieren, das er gefordert wird. „Er, der Gefangenen, er kann doch immer noch entscheiden. Er kann sich beispielsweise sagen, Ich breche aus. Er kann sagen ich stehe nicht auf. All das kann er machen. Er kann entscheiden sich der Diktatur der Gefängniswächter zu unterwerfen. Er kann aber auch entscheiden, sich ihr zu widersetzen.“ „Sicher Luc. Er kann sich widersetzen. Aber was bezweckt er denn damit?“ „Danach war doch nicht die Frage, John. Wir diskutieren heute über Freiheit und nicht über Macht. Macht hat der Gefangene keine. Aber Freiheit. Die Freiheit kann ihm keiner nehmen. Der Mensch produziert in jedem Augenblick seine Freiheit neu.“ John atmet tief durch. „Ja wenn Du das Pferd von dieser Seite betrachtest. Sicher. Der Gefangene kann sich dieses oder jenes Ausmalen. Darin ist er frei.“ „Der Mensch sieht doch seine Situation. Die kann gut oder schlecht oder sonst wie sein. Um zu leben, muß er aber etwas machen. Er muß in die Situation eingreifen. Keiner sagt ihm, was er machen soll. Er kann zwar entscheiden nicht zu entscheiden, aber das wäre ja auch eine Entscheidung und dadurch der Beweis seiner Freiheit.“ John klatscht in seine Hände. „Genial. Genial, muß ich sagen. Leben, und seine eminente Einheit Kommunikation, wird durch Entscheidungen geprägt. Darin ist er natürlich frei. Ob die Freiheit nun absolut oder nur marginal ist, darüber will ich gar nicht streiten. Was ist aber mit denjenigen Menschen, die nicht erkennen, daß das Leben, daß der Moment eine Entscheidung von ihnen verlangt?“ Luc beugt sich vor und in flüsterndem Ton antwortet er auf die Frage. „Arme Teufel sind das. Oder vielleicht raffinierte Spieler. Der Gefangene sieht vielleicht, daß er frei ist. Aber seine Macht ist limitiert. Mit dieser Einschränkung kann er nicht leben. Sie kränkt ihn. Es ist ihm absurd, frei zu sein. Aber nur in seiner Realität. Andere drängen ihm eine Realität auf, die er nicht akzeptieren will. So ist es für ihn vielleicht am besten, seine Freiheit zu leugnen.“ „Wird er dadurch glücklicher?“ Luc runzelt die Stirn. „Glück. Was ist schon Glück. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Wenn er aber dann sieht, dass seine Freiheit nicht alles versetzen kann, da ja jeder frei ist, aber alle in der gleichen Welt leben, somit jeder nur so handeln kann, wie es andere ihm gestatten, so sieht er den traurigen Abglanz unserer Existenz.“ „Ist er dann einsam?“ Johns Stimme wird melancholisch. „Generell macht Freiheit einsam. Wir entscheiden. Unsere Entscheidung paßt vielleicht anderen nicht, dadurch bauen wir Schranken zum Mitmenschen. Der Mensch will aber mit dem Anderen zusammen leben. Um das zu realisieren, muß er aber auf seine Freiheit verzichten. Wenn er das tut, ist er traurig. Er fühlt sich vielleicht schuldig. Wenn er darauf nicht verzichtet, dann wird der Schritt, die ausgestreckte Hand zum Nächsten schwerer.“ „Wenn der Mensch sich also für den Anderen, für Liebe, für Bindung entscheidet, dann weiß er doch, dass er sich auch anders entscheiden hätte können. Warum muß er dann traurig sein? Seine Potentialität ist doch ungebrochen. Er ist noch immer frei, aber nicht einsam.“ Luc klopft mit den Fingern auf den Tisch. „Sieh: Dieses Wissen um die Entscheidungsfreiheit, das macht ihn schwermütig. Der Mensch pendelt zwischen den Polen Freiheit und Individuation. Wenn er frei ist, dann ist er meist alleine. Wenn er gebunden ist, dann kann seine Individualität nicht aufleben. Diesen Spagat kann er nicht immer meistern.“ „Ist der Mensch in der Gruppe vielleicht auch einsam?“ „Wenn der Mensch seine Verantwortung wahr nimmt und seine Freiheit erkennt und sie in seine Hand nimmt, dann ist er im Endeffekt immer einsam. Jede Entscheidung trifft er alleine, muß er alleine treffen, das drängt ihn schon in die Isolierung. Verweigert er sich aber, so betrügt er sich doch nur selbst.“ „Der Mensch ist ja ein denkendes Wesen. Er kann nicht in Ketten leben. Dazu ist er nicht befähigt. Ich denke auch, daß der Mensch seine Geworfenheit erkennen wird. Er kann nicht so dastehen und sagen, das alles interessiert ihn nicht. Jede einzelne Entscheidung interessiert ihn, auch wenn er das nicht immer bemerkt.“ Luc schlägt John auf die Schulter. „Einsamkeit ist des Menschen Schicksal. Aber der Mensch hat die Kraft, dieses Schicksal zu tragen. Er kann seine absurde Existenz belächeln.“ John hält Luc nun bei den Händen. „Der Mensch ist frei, seine Einsamkeit, sein Dasein zu belächeln. Gott gibt ihm die Kraft, im Anblick seiner Sünde, seiner Ohnmacht - trotz Freiheit - sein Erdendasein in Freude zu meistern!“

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