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Evelyn (3):Wie man richtig scheitert

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Es ist hochgradig Ekel erregend, was uns eröffnet, wenn wir über die Neuköllner Frauenarztschulter hinweg in das Evelyn-Innere blicken. Zwar hat Evelyn per Intimrasur versucht, uns das Aussehen ihrer Vagina als einigermaßen attraktiv zu verkaufen. Die Schamlippen sind sorgfältig enthaart, der Venushügel gleichmäßig gestutzt. Doch wird es niemandem schwer fallen, diese verzweifelten Hygienebemühungen als Äußerlichkeit zu entlarven. Denn was da aus Evelyn heraus und uns entgegen fließt – in unberechenbaren Intervallen, klebrig, dickflüssig, immerhin geruchlos – ist das Ergebnis bakterieller Infektion psychosomatischen Ursprungs. Verlustempfinden, Minderwertigkeitskomplex, womöglich das Gefühl gescheitert zu sein, führten zu Evelyns wenig vorzeigbarer Erkrankung. Das Leiden der jungen Evelyn hätte durch den dieser Tage fehlenden Feminismus verhindert werden können, denkt wahrscheinlich die ein oder andere beim Betrachten des befallenen Unterleibs. Wir könnten sie auffangen, aufrichten, schützen und verteidigen. Wir Frauen. Unsere allgemein pornographisch geschulte Betrachtungsweise hätte uns Frauen wie uns Männer jedoch beinahe daran gehindert, auf Evelyns Gesicht zu achten. Ich brauche keinen Feminismus, sagt dieses Gesicht, ich bin glücklich. Evelyn zeigt sich ob der frauenärztlichen Operation mit leicht schmerzverzerrter Mine, gleichzeitig liegt in dieser schmerzverzerrten Mine aber ein tiefer Stolz. Stolz worauf, liebe Evelyn? Du hast weder Job noch Lebenspartner, noch Perspektive, noch Glück. Du wohnst in einer miefigen Neuköllner Hinterhausabsteige zusammen mit einem billigen Double des einzigen, des echten Commodore … Stolz auf Lucas, lächelt Evelyn. Es ist ein Lächeln, dass dem Lächeln eines Menschen gleich kommt, der im Augenblick einen Orgasmus erlebt. Ein Orgasmus, der mit dem von vornherein scheiternden Kampf der Verweigerung, der Ablehnung, der grundsätzlichen Angst vor sich selbst einhergeht. Nein, ich will nicht kommen, hör auf, das ist nicht gut!, scheint das Evelyn-Gesicht eben noch zu keuchen, da löst sich dieses Verzweiflungskeuchen in befreitem Wohlgefallen auf, in Freude am Scheitern an sich selbst. „Sie haben sehr viel Ausfluss“, unterbricht die Neuköllner Frauenärztin Evelyns Glückseligkeit. Nicht zuletzt weil die Neuköllner Frauenärztin ein Kopftuch trägt, ist Evelyn gezwungen, den Satz „Sie haben sehr viel Ausfluss“ als Beleidigung, als Vorurteil zu verstehen, denn im Untertext vermutet Evelyn die Worte „Sie haben sehr viel rumgefickt.“ „Die Liebe …“, will Evelyn dieses Missverständnis aus der Welt schaffen, indem sie versucht, einen Vortrag über ihre Liebe zu Lucas zu halten. „Die Liebe …“ Leider scheitert Evelyn. Denn obwohl sie selbst „die Liebe“ empfindet, und obwohl „die Liebe“ ihr ein orgastisches Lächeln aufs Gesicht zaubert, kann sie „die Liebe“ kaum erwähnen, schon gar nicht erklären. Der Ausdruck „die Liebe“ stinkt vor Kitsch und löst in Evelyn einen kaum zu unterdrückenden Brechreiz aus. ‚Vielleicht fickt Commodore deswegen so viel rum’, denkt Evelyn als sie nach Hause kommt und Schlingensief dabei beobachtet, wie er seine Zunge in Commodores Gehörgang zwängt, ‚weil er voller Liebe ist und diese Liebe nicht anders auszudrücken weiß.’ Mit dem befriedigenden Gefühl, Commodore zu verstehen, setzt Evelyn sich zu den beiden auf die abgenutzte Sofagarnitur. Mit dem unbefriedendem Gefühl, ignoriert zu werden, greift sie nach der Flasche Vielsaft Trank – die irgendein mitdenkender jetzt.de-user dort hingestellt haben muss – und wird augenblicklich wahrgenommen. Denn augenblicklich sieht Evelyn aus wie alle hier Anwesenden. Sie trägt Katzenfell im Gesicht und Katzenohren auf dem Kopf. Umgehend nimmt Schlingensief seine raue Katzenzunge aus Commodores Ohr und beginnt, auf Evelyn einzureden: „Don’t simplify your life!“ Er spricht Englisch, weil er international verstanden werden will. Dass Schlingensief echt ist, erkennen wir daran, dass sein Englisch sehr deutsch klingt: „Scheitern in the right way means that you overtop yourself. That you stop consuming. Don’t consume organizations like the Feminismus or the Kolumne. Don’t say I am happy enough I don’t need it. Don’t say I am sad and the Kolumne does not make it better. Don’t consume love. Love is not there to make you happy, it is there to overtop your mind. You are your own Staat and Wir sind das Volk.“ „Du bist mein Staat, und ich bin dein Staat, wir sind eins“, flüstert Commodore ungewöhnlich glaubhaft, an Schlingensiefs Hals leckend. Woraufhin Schlingensief Commodores Gesicht zerkratzt, was Commodore zu gefallen scheint. „Und worin liegt jetzt die Chance am Scheitern einer Kolumne“, verhindert Evelyn das Auskratzen der Commodore-Augen. „There is only a chance when I give you a chance“, sagt Schlingensief, „in 1998 I gave 6 mio. arbeitslose people the chance to spring into the Wolfgangsee, now I do other things.“ „Bitte gib mir auch eine Chance“, schnurrt Evelyn. „No!“ „Ich will, will, will aber eine Chance“, maunzt sie. „No! No!“, kreischt Schlingensief, „don’t consume me!“, und zerfetzt dabei die abgenutzte Sofagarnitur, „don’t consume me! Don’t consume me! Don’t consume …“ Wobei Evelyn überlegt, ob Aggression ein Männerproblem ist. Frei nach dem Eva-Prinzip geht sie mit ihrem Katzengesicht in die Küche und backt einen Apfelkuchen für das Jobcenter Neukölln. … Illustration: dirk-schmidt

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