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Evelyn (4): Ein bisschen mehr Selbstachtung, bitte!

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Schon zum fünfzehnten mal rammt Evi jetzt den Staubsauger gegen Commodores Tür. Doch während Evi sich bereits an der zerfetzten Sofagarnitur die Finger blutig genäht hat, während Evi jedes Katzenhaar einzeln vom Teppich gepflückt hat, während Evi außerdem den Müll runter gebracht, die Yukka-Palme gegossen, Staub gewischt, Wäsche gebügelt und den Apfelkuchen in umweltfreundliche Frischhaltefolie gepackt hat, trägt Commodore kein bisschen zum harmonischen Miteinander bei. Er verlässt seit Tagen lediglich das Zimmer, um aufs Klo zu gehen und dort mit einem Seufzer der Befreiung seinen Darm zu entleeren. Was genau in Commodores Körper den Weg der Verdauung gegangen sein muss, ist Evelyn vollkommen unklar, denn seit Tagen sieht sie ihn ausschließlich mit ein bis vier Lollys im Mund. Aus Commodores Zimmer schwillt eine Wolke verbrauchter Luft, gepaart mit dem digitalisierten Aufschrei halb abgeschlachteter Menschen. „Er macht wohl gerade eine schwierige Phase durch“, flüstert Evelyn vor sich hin, als sie mit Apfelkuchen bewaffnet, die Haustür hinter sich zuzieht. Die Karl-Marx-Straße ist heute ungewöhnlich fahrradfreundlich. Wo Evelyn sonst ihr Leben, eingeengt zwischen parkenden und fahrenden Autos, in Gefahr bringen musste, kann sie selbiges jetzt frei entfalten. Wo sind nur alle? Niemand ist da, der sie töten könnte. Lediglich eine ältere Dame mit Stützwägelchen verzichtet beim Abbiegen in eine Seitengasse auf jeglichen Schulterblick und bremst Evelyn aus, um ihr dann mitzuteilen: „Sie sind hier nich alleene, wa!“ – „Entschuldigung“, sagt Evelyn und muss mit ansehen, wie die ältere Dame Evelyns Kopf in Miniaturausgabe in den Mund steckt. „Wo gibt es diese Lollys!“, schreit Evelyn. „Ma janz locker, Kleene“, entgegnet die ältere Dame, „sind noch jenuch für alle da, jibtet an alle Bahnhöfe.“ Evelyn fährt extrem verunsichert weiter und stoppt am S-Bahnhof Neukölln, wo ihr ein unendlich glücklich aussehender Junge entgegenkommt. „Was hast du da?“, keift Evelyn. „Eine Dose Lollys der Deutschen Bahn“, erklärt der Junge und beißt Evelyns Kopf kaputt, „gibt’s gratis zum Killerspiel.“ Auf der Verpackung des Killerspiels ließt Evelyn DIE DEUTSCHE BAHN PRÄSENTIERT: DEN HAUPTBAHNHOF! Vorerst entdeckt Evelyn nichts mörderisches. Unter der Überschrift ist der Berliner Hauptbahnhof abgebildet, prächtig, futuristisch und unschuldig im Sonnenlicht glänzend. „Hier sind die tonnenschweren Stahlträger“, zeigt der Junge, „man kann einen Sturm verursachen und sie runter fallen lassen. Dann kann man sie aufsammeln.“ – „Und wozu?“ – „Als Waffen“, belächelt der Junge Evelyns blöde Frage, „man kann auch kleinere Waffen sammeln, zum Beispiel einen Eispickel aus dem Eiscafé Zanetti, einen Wok mit heißem Fett vom Asia Gourmet oder Ampelmännchen-Anstecker vom Souvenir-Shop. Es muss ja nicht jede Waffe sofort zum Tod führen.“ – „Findest du das nicht rücksichtslos, menschenverachtend und Gewalt verherrlichend?“ – „Nein, man muss höllisch viel Rücksicht nehmen, man muss auf all die Menschen achten, die um Evelyn herum sind …“ – „Evelyn?“ – „Ja, wenn bei einem Anschlag auch Passanten getötet werden, wird automatisch die Grafik schlechter. Dann kann man Evelyns Gedärme nur sehr unscharf fliegen sehen.“ Dass Gewalt nicht verherrlicht werden muss, weil Gewalt bereits herrlich ist, erkennt Evelyn an den funkelnden Augen des glücklichen Jungen. ‚Der macht vielleicht auch gerade eine schwierige Phase durch’, denkt Evelyn, und endlich angekommen im Jobcenter Neukölln, redet sie auf eine Lolly lutschende Empfangsdame ein: „Ich hätte gerne Hartz IV.“ – „Das muss erst beantragt werden“, sagt die Lolly-Dame und schafft es nicht, den Blick vom PC abzuwenden. Evelyn findet das Verhalten der Dame sehr unhöflich. Trotzdem lässt sie ihr ein Stück Apfelkuchen da. Evelyn findet auch das Verhalten aller anderen Angestellten, in deren Büro sie irrtümlicherweise landet, unhöflich. Trotzdem lässt sie jedem ein Stück Apfelkuchen da. Bis sie schließlich das Gefühl hat, angekommen zu sein, verstanden zu werden. Denn vor ihr sitzt: melanie-arns. „Sie werden Rikscha fahren“, spricht melanie-arns ohne zu zögern, denn das Jobcenter-Neukölln hat sich neuerdings zum Ziel gesetzt, jeden sofort zu vermitteln. „Sie werden Touristen per Dreirad durch die Stadt kutschieren.“ Wobei auffällt, dass melanie-arns nach jedem Satz erotisierenderweise über ihre Lippen leckt. Auch mit der weit aufgeknöpften Bluse scheint sie imponieren zu wollen. „Wem willst du damit imponieren?“, lenkt Evelyn gekonnt von der gut gemeinten Arbeitsvermittlung ab, „glaubst du, das gefällt hier jemandem?“ Ihr errötetes Gesicht versucht melanie-arns hinter dem Stoff der blau-weiß karierten Bluse zu verstecken. „Ja“, spricht sie verlegen auf ihre wohl proportionierten Brüste. „Du leckst deine Lippen, du zeigst deine Brüste, du hältst obendrein deine triefende Vagina in die Kamera!“ „Das war ja wohl deine Vagina!“ kontert melanie-arns vergeblich. „Du bietest dich an, wie eine Hure! Hast du denn kein bisschen Selbstachtung?“ „Meine Vagina hat wenigstens Persönlichkeit. Du hast nur deinen Apfelkuchen, den du jedem anbietest, der dir gefährlich werden könnte. Du hast Angst zu scheitern. Du machst keine Unterschiede, du gehst auf niemanden ein, weil für dich alle nur dazu da sind, dich zu mögen. Man kann sich mit dir nicht befreunden, weil du die ganze Zeit damit beschäftigt bist, jedem zu gefallen. Du hast nichts, was du jemandem entgegensetzen könntest, weil an dir nichts ist, was dich ausmacht. Und deswegen hältst du jetzt die Klappe und wirst Rikscha fahren!“ Weil Evelyn im Rikscha fahren ihre Würde verletzt sieht, und weil Evelyn vorhin vom Schreibtisch der Empfangsdame eine Schere aufgesammelt hat, sticht und hackt sie melanie-arns kurzerhand zu Tode. Und weil kein Arbeitsplatz unbesetzt bleibt, sitzt danach Dirk vor ihr, der sie ebenfalls zum Rikscha fahren zwingen will. Und danach sitzt ein anderer Dirk vor ihr, und nachdem Evelyn die gesamte jetzt.de-Redaktion und außerdem noch ein paar Passanten zu Tode gemetzelt hat, erkennt sie, dass blöderweise jeder einzelne Mensch austauschbar ist. ‚Und bevor das immer so weiter geht und bevor am Ende noch Lucas vor mir sitzt, den ich dann ebenfalls umbringen müsste’, kombiniert Evelyn, ‚höre ich lieber auf’. Aus purer Liebe zu Lucas also, beugt sich Evelyn dem Jobcenter-Angebot und tritt tatsächlich den Rikscha-Dienst an. ‚Bestimmt werden die Touristen mich mögen’, denkt Evelyn außerdem, ‚weil ich mich für sie aufopfere.’ Hier kannst du die drei vorhergehenden Evelyn-Folgen nachlesen.

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