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Evelyn (5 und Schluß): Bitte bleib, wenn du gehst

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Dass auf der Fan-Meile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule eine halbe Million Menschen das Ende der Kolumne feiern, kriegt Evelyn momentan noch nicht mit. Denn Evelyn ist im Augenblick noch zu sehr damit beschäftigt, ihr Touristendreirad unter Kontrolle zu bringen. Als Evelyn den Prenzlauer Berg runter fuhr, sich der nächsten Kreuzung näherte und die Ampel noch nicht auf Grün gesprungen war, sah es kurz so aus, als würde Evelyn in ihren eigenen Tod rasen. Mittlerweile hat sie aber die Bremsen gefunden. Inzwischen ist sie viel mehr damit beschäftigt, das Fahrzeug in eine vorgesehene Richtung zu lenken. Nach links will Evelyn nämlich, was dem Willen der störrischen Rikscha komplett zu widersprechen scheint. Evelyn muss lernen, dass Dreirad nicht gleich Zweirad ist, dass Gewichtsverlagerung die Sache nur noch schlimmer macht. Nur sitzen und lenken, liebe Evelyn, lerne, deinen Ehrgeiz zu bändigen, sei ganz locker und akzeptiere, dass weniger oft mehr ist. Dass mehr einfach nur mehr ist, erfährt Evelyn, als sich am Alexanderplatz zwei gar nicht mal so dicke Menschen auf die dafür vorgesehene Rikschatouristensitzfläche niederlassen und zum Dom gefahren werden wollen. Das Anfahren gestaltet sich schwierig, man kommt erst so gar nicht und dann nur langsam voran. Doch die Fahrgäste zeigen Verständnis für Evelyns ungeschickten Umgang mit der Gangschaltung und ihren dazugehörigen Schweißausbruch. Überhaupt scheinen diese Leute sehr nett zu sein. Der Evelyn-Schweiß löst in ihnen mit der Zeit allerdings höchst unangenehmes Mitleid aus, so dass sie die Fahrt nicht wirklich genießen können, weswegen sie dann auch kein Trinkgeld zahlen. Macht nichts, denkt Evelyn, und hat keine Zeit noch mehr zu denken, denn gerade in einen leichteren Gang geschaltet und gerade am Dom angekommen, will ein älterer Herr zur Fan-Meile gefahren werden. „Was wird dort eigentlich gefeiert“, fragt Evelyn jetzt endlich. „Das Ende der Kolumne!“, schreit der ältere Herr, soweit das seine angeschlagenen Stimmbänder zulassen. „Und was ist so toll daran?“, will Evelyn wissen. „Ich fühle mich befreit! Ich fühle mich gut! Ich will feiern!“, krächzt der ältere Herr und reißt dabei trotz Gelenkschmerzen beide Arme gen Himmel. Als verantwortungsbewusste Personenbeförderin versucht Evelyn den älteren Herrn ein wenig zu beruhigen: „Bleiben Sie still sitzen, halten Sie sich fest.“ - „Das schaukelt so schön, wie auf hoher See!“ ruft der ältere Herr vor Vergnügen, „fühlt sich im Magen an wie verliebt sein“, worauf Evelyn kurz davor ist, sich in den älteren Herrn zu verlieben, beziehungsweise kurz davor ist, den älteren Herrn in die Spree zu kippen, denn das Schaukeln der Rikscha löst in Evelyn nur Übermut aus, so dass sie beim Umrunden des Reichstages die Kontrolle verliert. Ob der ältere Herr dann tatsächlich aus dem Fahrzeug und in die Spree fällt, ist Evelyn jedoch schlagartig egal, denn von weitem ertönt jetzt eine ungeheuer durchdringende, einprägsame, fast schöne Stimme: Die Stimme von Dieter Bohlen. Evelyn lässt ihre Rikscha links liegen und rennt zur Fan-Meile, noch nicht ganz im Klaren darüber, ob sie Dieter umarmen will oder ermorden. „Ich scheiß auf die Kack-Kolumne, ich scheiß auf die erbärmliche Evelyn!“, heizt er das Millionenpublikum ein. In den ersten Reihen fallen zwölf Mädchen vor Begeisterung in Ohnmacht. Auch Evelyn ist irgendwie fasziniert von Dieters Talent, die Würde des Menschen zu verletzen. „Evelyn!“, schreit Dieter in die Menge, „nimm deine Gefühle und geh!“ Anstatt bei dem Gedanken an ihre Gefühle, das Haupt zu erheben und die Brust zu schwellen, lässt Evelyn die Schultern hängen und den Blick zu Boden sinken. Dort findet sie Müll. Evelyn interessiert sich nun mehr und mehr für das Meer aus Pfandflaschen, in dem sie sich samt Geldgier stehen sieht. Evelyn sammelt und sammelt und beim Versuch auch noch die hinterletzte Flasche aus einer überfüllten Tonne zu angeln, wird sie von einem Obdachlosen bewusstlos geschlagen und danach mit Abfall zugedeckt, was ihr ganz recht geschieht, denn was wühlt sie auch in anderer Leute Mindesteinkommen! Anzumerken ist noch Evelyns vegetatives Nervensystem, beziehungsweise Evelyns Sehnsucht nach Lucas. Denn motiviert durch Evelyns Sehnsucht nach Lucas, bringt es ihr vegetatives Nervensystem fertig, den unerträglichen Gestank von Müll in unwiderstehlichen Geruch nach Lucas umzuwandeln. Es riecht ein wenig nach Fisch und ein wenig nach Salz in Evelyns Traum. Mit der Hoffnung auf üblen Abschiedsporno finden wir uns an Deck eines gigantischen Segelschiffs wieder. Doch was Evelyn und Lucas uns hier anzubieten haben, ist kein bisschen kabinenkinogeeignet. Eingepackt in wind- und wasserdichter Schutzbekleidung springen sie eifrig an einem Tau hoch, um mit voller Kraft daran zu ziehen. Beim Hissen des Segels berühren sich ihre Körper. Das ist alles. Illustration: dirk-schmidt

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