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Was vom "Fall Lisa" bleibt

Foto: dpa / Gabbert

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Am 11. Januar 2016 verschwand das 13 jährige russlanddeutsche Mädchen Lisa auf dem Weg zu ihrer Schule in Berlin. Noch am selben Tag meldeten ihre besorgten Eltern das Mädchen als vermisst, zum Glück tauchte Lisa 30 Stunden später wieder auf. Nur die Geschichte, die Lisa über Verschwinden erzählte, war schrecklich: Sie sei von „Südländern“ mit ausländischem Akzent in eine Wohnung entführt und immer wieder vergewaltigt worden, behauptete das Mädchen. Eine Falschaussage, wie sich später herausstellen sollte. In Wirklichkeit hatte sie die Nacht freiwillig bei ihrem 19-jährigen Freund verbracht.

Das Problem: Die Meldung über die Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch Flüchtlinge war da bereits in der Welt. Russische Staatsmedien wie der Fernsehsender „Perwyj Kanal“ („Erster Kanal“) berichteten darüber, deutschlandweit gingen Russlanddeutsche auf die Straße und protestierten gegen Flüchtlinge – zum Beispiel vor dem Berliner Kanzleramt. „Lisa wir sind mit dir“ oder „Unsere Kinder sind in Gefahr“ stand auf ihren Schildern. Sogar der russische Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich in die Debatte ein. Er warf den deutschen Behörden und Medien vor „die Realität aus innenpolitischen Gründen politisch korrekt zu übermalen.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei bereits längst anhand der Handydaten des Mädchens ihren wahren Aufenthaltsort nachweisen können, auch sie selbst hatte ihre Ursprungsversion der Geschichte zurückgezogen. 

Auch ich habe damals den "Fall Lisa" verfolgt. Und ich hätte damals nicht gedacht, dass wir ein Jahr später immer noch darüber sprechen müssen. Aber das ist dringend notwendig, denn: Im Laufe des vergangenen Jahres wurde der Fall stets als Paradebeispiel aufgeführt, wenn es um den Einfluss russischer Staatsmedien und Propaganda in Deutschland ging. Das prägte auch das Bild, das die Öffentlichkeit von Russlanddeutschen in Deutschland hatte – und vielleicht auch noch hat. Tenor: Die meisten Russlanddeutschen beziehen ihr Wissen aus russischen Quellen, glauben also russische Propaganda.  

Als Tochter eines Russen spreche ich Russisch und kenne auch das russische Staatsfernsehen. Gerade in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ polarisiert es und nutzt Fälle wie den der angeblichen Vergewaltigung als Aufhänger für eine Berichterstattung gegen Flüchtlinge. Aber kann man die Proteste wirklich als Beweis betrachten, dass das russische Fernsehen Russlanddeutsche beeinflusst? Das Thema hat mich so umgetrieben, dass ich schließlich meine Bachelorarbeit zu dem Thema gemacht habe. Per Online-Fragebogen habe ich 117 Russlanddeutsche in ganz Deutschland zu dem Thema befragt.

Welchen Medien glauben Russlanddeutsche? Und wer sind überhaupt "die Russlanddeutschen"?

Das knapp zusammengefasste Ergebnis: Die Befragten haben im Fall Lisa eher den deutschen als den russischen Medien geglaubt und nutzen diese insgesamt auch häufiger. Dass ein Teil der Russlanddeutschen in einer Parallelwelt des russischen Staatsfernsehens lebt und diesem glaubt, kann natürlich trotzdem sein. Schließlich ist der Empfang russischer Medien dank Kabel, Satellit und vor allem über das Internet ohne Probleme möglich. Meine Ergebnisse stehen also im Gegensatz zu dem Eindruck, den die Proteste vermittelt haben. Natürlich ist die Umfrage nicht repräsentativ, da die Befragten unter anderem überdurchschnittlich gut gebildet waren: 70 Prozent von ihnen haben einen Hochschulabschluss.

Aber sie bietet trotzdem einen Einblick. Und dass Russlanddeutsche größtenteils deutsche Medien nutzen, haben auch schon frühere Studien belegt.

„Alle Russlanddeutschen lassen sich vom russischen Staatsfernsehen beeinflussen“ ist also ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Doch mit diesem Bild wurden viele Russlanddeutsche nach dem Fall Lisa konfrontiert. Doch wer sind eigentlich die Russlanddeutschen? Von Bekannten hörte ich nach dem Fall Lisa oft: Du bist doch auch Russlanddeutsche, oder? Falsch. Ich bin als Tochter eines Russen und einer Deutschen in Deutschland geboren. Für viele Deutsche macht das vielleicht keinen so großen Unterschied, für einige Russlanddeutsche aber schon. Sie sind als Aussiedler oder Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Für sie zählt oft die Verbundenheit zu Deutschland: Sie fühlen sich als Rückkehrer in eine Art Heimatland. Ihre Vorfahren waren nämlich Deutsche, die sich im 18. Jahrhundert zum Arbeiten in Russland angesiedelt haben.

Doch trotzdem gibt es nicht DIE Russlanddeutschen, es existiert keine homogene Community. Die Russlanddeutschen als Gruppe sind genauso vielfältig wie alle anderen Gruppen auch. Es gibt ja auch nicht DIE Deutschen. Demonstriert haben im Januar 2016 ein paar tausend Menschen, wenn man alle Demonstranten addiert – im Vergleich zu den in Deutschland lebenden rund drei Millionen Aussiedlern ist diese Zahl aber relativ gering. Auch wenn keineswegs alle Russlanddeutschen etwas gegen Flüchtlinge haben, sind es die Demonstranten, die in der Öffentlichkeit präsent sind. So entsteht der Eindruck, die meisten Russlanddeutschen wären gegen Flüchtlinge.

Manchen Russlanddeutschen ist es heute peinlich, dass sie damals durch die russische Meldung so verunsichert waren

 

Als ich meine Umfrage im letzten Jahr gestartet und den Link zum Fragebogen an verschiedene russlanddeutsche Vereine geschickt habe, meldeten sich viele Leute bei mir. „Ich finde es gut, was du machst“, hieß es. Russlanddeutsche bedankten sich per E-Mail für meinen Einsatz.

Die russlanddeutsche Bloggerin Melitta Roth schrieb mir: „Ich habe den deutschen Medien geglaubt, aber die Berichte der russischen Sender haben es geschafft, mich zu verunsichern.“ Dazu kommt noch: Das Thema Vergewaltigung berührt eine Urangst vieler Menschen. Die Behauptung, Flüchtlinge, insbesondere solche aus dem islamischen Kulturkreis, würden europäische Frauen nicht respektieren und dementsprechend oft vergewaltigen, ist zwar unwahr, wird aber oft zur Panikmache verwendet. So eben auch im Fall Lisa. „Am Ende war ich wirklich erleichtert, dass das Mädchen nicht wirklich vergewaltigt wurde. Und wütend darüber, wie sehr sich die Gruppe der Aussiedler hat instrumentalisieren lassen“, sagte die Bloggerin Melitta Roth.

 

Nach meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit vielen Russlanddeutschen über das Thema unterhalten. Manchen ist es peinlich, dass sie damals durch die russische Meldung so verunsichert waren. Der Vorfall sei allerdings zu sehr aufgebauscht worden – sowohl von deutschen als auch russischen Medien. Die Russlanddeutschen haben das Gefühl, in der deutschen Öffentlichkeit fälschlicherweise immer wieder damit in Verbindung gebracht zu werden, dass sie anfällig für russische Propaganda sind. Vielen liegt immer noch etwas daran, die Dinge wieder richtigzustellen. Die meisten wollten allerdings am liebsten gar nicht mehr darüber sprechen, sondern den Fall Lisa nur vergessen.

 

Aber es ist wichtig, dass wir den Fall Lisa nicht vergessen. Und auch nicht, dass das russische Fernsehen mit Falschmeldungen für Aufruhr in Deutschland sorgen kann. Aber dadurch sollte nicht zu Unrecht das öffentliche Bild einer ganzen Gruppe geprägt werden.

 

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