Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Sind Streiks noch zeitgemäß?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Jakob Schrenk sagt: JA. 1. Derzeit wollen uns viele Politiker, Wirtschaftsbosse und Journalisten erzählen, Streik sei eigentlich nur das Mittel korrupter Gewerkschaftsfunktionäre, die nur ihre eigene Macht sichern und den Wirtschaftsstandort Deutschland zerstören wollen. Dabei ist Streik garantiert in Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes – aus gutem Grund 2. Die Unternehmer, in diesem Fall die öffentliche Hand, haben das Geld, die Arbeitnehmer nur ihre eigene Arbeitskraft, die sie den Arbeitgebern anbieten müssen. Der Streik ist daher ihr einziges Mittel, um gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Ohne dieses Recht könnten sie bei den Arbeitgebern nur betteln - und auf ein wenig Gnade hoffen. 3. Ohnehin wird der Streik bei uns nur sehr sparsam eingesetzt. So wenig wie die Deutschen streiken auf der ganzen Welt nur noch die Japaner, Österreicher und Schweizer. Auf 1000 Beschäftigte kommen gerade einmal 9 Streiktage. In den angeblich so arbeitnehmerfreundlichen USA sind es dagegen über 40. 4. Der erste Streik der Geschichte liegt schon etwas zurück. Im Jahr 1156 vor Christus legten in Ägypten Tempelbauer die Arbeit nieder: der Pharao Ramses hatte ihnen zwei Monate nichts zu Essen gegeben. Seither wurde durch Streiks aber viel mehr erreicht als nur ein paar Schalen Reis... 5. ...nämlich sehr viel von dem, was heute für uns selbstverständlich ist: Zum Beispiel, dass Erwachsene nicht mehr vierzehn Stunden am Tag schuften und Kinder gar nicht mehr, dass wir Ferien machen dürfen und gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter versichert sind. 6. Aber diese Rechte sind und nicht für alle Ewigkeit garantiert. Derzeit erzählt uns eine ganz große Koalition aus Wirtschaftsexperten, Politikern und Arbeitgebern, dass wir alle wieder mehr arbeiten müssen – und weniger verdienen. Sieht ganz danach aus, als wollten sie wieder zurück in den Frühkapitalismus. 7. Über Unternehmer, die Arbeitsplätze abbauen und zu geringe Löhne zahlen, jammern unsere Politiker gerne. Aber da, wo sie es selber in der Hand hätte, beim öffentlichen Dienst nämlich, machen sie es nicht besser. Im Gegenteil: Seit dem Jahr 2000 ist die Beschäftigung im öffentlichen Dienst um vier Prozent zurückgegangen. 8. In den USA, die doch angeblich einen so schwachen Staat haben, ist die Beschäftigung im öffentlichen Dienst seit 2000 um fast vier Prozent gestiegen, in den Ländern der Eurozone war es noch mehr. Warum schaffen also andere Länder Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst – und wir schaffen sie ab. 9. Beim Streik geht es also nicht um 18 Minuten am Tag – sondern um viel mehr ... 10. ... und wem das nicht passt, der kann ja nach China gehen, nach Saudi-Arabien oder in den Iran. In diesen freiheitsliebenden und demokratischen Ländern ist das Streiken nämlich verboten.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Christoph Koch sagt: NEIN. 1. Weil die Streiks, die ich aus eigener Erfahrung kenne, Uni-Streiks waren. Also Leute, die im Fachschaftszimmer Glühwein trinken und Pamphlete verfassen oder sich als Zeichen des Protestes nackt ausziehen und die Bildung im Stadtbrunnen baden gehen lassen. Dafür ist es derzeit eindeutig zu kalt. 2. Dann gibt es natürlich noch die Leute, die sofort in ihren Heimatort fahren, um dort in der Streikzeit ein paar Extraschichten in ihrem Nebenjob zu arbeiten. Auch keine Werbung für den Streik. 3. In der Schweiz herrscht ein "Arbeitsfrieden", niemand streikt. Und dort ist erfahrungsgemäß alles besser. 4. Dass sich Streiks als politisches Druckmittel überholt haben, beweist die Geschichte von den Praktikantenstreiks im letzten Jahr, als mancherorts Praktikanten den Streiks mit der Begründung fernblieben, dass ohne ihre Arbeit der Betrieb zusammenbräche. 5. Wenn also selbst der essentielle Mechanismus von Streiks nicht mehr begriffen wird, ist es wohl Zeit für neue Konzepte. 6. Die Gewerkschaften haben ein Streik-Monopol – dabei sind doch sonst immer alle gegen Monopole. 7. „Wilde Streiks“, also die einzigen Streiks, bei denen man sich nicht mit Gewerkschaftsbossen wie Frank Bsirske gemein machen muss, sind in Deutschland leider verboten. 8. Wer in Deutschland gewerkschaftlich organisiert streikt, hat meist schon eine ganze Menge, um das ihn andere beneiden: Arbeitsvertrag, Aufenthaltsgenehmigung, Betriebsrat, Sozialversicherung. Den Leuten, die ihn am dringendsten bräuchten, steht Streik als Mittel leider nicht zur Verfügung: Illegale Leiharbeiter, die WM-Stadien bauen, schwarz bezahlte Putzfrauen, die unsere Altbauwohnungen sauber halten, fünf Milliarden Arbeitslose etc. 9. Schon klar, dass man nicht mit Style argumentieren darf, wenn es um die dunkle Macht des Turbokapitalismus geht. Aber allein der Gedanke, in einer klammen Plastikweste mit Gewerkschaftslogo im Nieselregen lauen Kaffee aus der Thermoskanne eines schnurrbärtigen Kollegen zu nippen und „Streikbrecher“ zu schmähen, macht das Streiken doch für jeden unmöglich, der nur einen Funken Stolz in sich trägt. Dann lieber gleich kündigen. Und das machen, was man schon immer tun wollte - wenn man nur diesen doofen Job nicht hätte. 10. Wenn ich schon nicht Counterstrike spiele, kann ich es ja wenigstens sein. Geht sicher gut mit dem Scheinselbständigkeits-Pullunder zusammen. Fotos: AP

  • teilen
  • schließen