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Endstation Griechenland

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Vor Kurzem war Azad für ein paar Tage auf der Ägäisinsel Chios unterwegs. Nicht zum Urlaubmachen, sondern beruflich. Der 20-jährige Afghane arbeitet für eine Athener NGO, die in den griechischen Flüchtlingslagern Informationen und Beratung anbietet. Er hat schon viel Elend gesehen, doch auf die Zustände im Camp Vial auf Chios war er nicht vorbereitet: Zurück in Athen zeigt Azad, noch immer schockiert, ein verwackeltes Handyvideo. Dutzende Menschen, auch Kinder, sind zu sehen, eingesperrt in einem großen Metallkäfig. So wurden in Vial noch bis vor wenigen Tagen Neuankömmlinge bis zu ihrer Registrierung untergebracht. Erst unter dem öffentlichen Druck von NGOs und einigen Medien schaffte die Campleitung sie ab. Vial ist eines der „Hotspots“ genannten Aufnahmelager auf den Ägäisinseln. Finanziert und geplant wurden sie mit EU-Mitteln, um die Migration nach Europa effizienter zu „managen“.

Azad sitzt auf einer Couch in dem sonst eher kargen Büro, das er sich in Athen mit einigen Kollegen teilt. Mit seinem ernstem Blick und dem Bart sieht er deutlich älter aus als 20. Seine drastische Art zu erzählen, verstärkt diesen Eindruck noch. Er will begreifbar machen, wie ernst die Lage in Griechenland ist. Nur ab und zu erlaubt er sich etwas Ironie oder ein kurzes Lächeln.

Dass auch Griechenland zu Europa gehören könnte, kam Azad gar nicht in den Sinn

Beim Anblick des Menschenkäfigs kam in ihm, so erzählt er, mit voller Härte all die Wut und Enttäuschung wieder hoch, die er so oft empfunden hat in den vergangenen Monaten. Azad hätte selbst einer der Männer hinter den Gitterstäben sein können. Nur ein Jahr zuvor ist auch er zusammen mit anderen Flüchtlingen in einem kleinen Schlauchboot am Strand von Chios gelandet. Im Gepäck: Erinnerungen an schlimme Erlebnisse in der Heimat, in Kabul, und große Hoffnungen auf eine Zukunft in Europa, wo Flüchtlinge willkommen geheißen würden, wie er damals noch glaubte.

 

Europa, das bedeutete damals für Azad ein Versprechen. Ein Versprechen auf Freiheit, Bildungschancen und ein funktionierendes Rechtssystem. Geografisch verortete er diese Werte in Nordeuropa. Dass auch Griechenland zu Europa gehören könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Wie alle anderen wollte er schnell weiter – nach Deutschland, Schweden oder in die Niederlande. Doch Azad hatte Pech: Sechs Tage, nachdem er auf Chios zum ersten Mal EU-Boden betreten hatte, beschlossen mehrere Balkanstaaten und Österreich, den letzten offenen Grenzübergang zwischen Griechenland und Mazedonien bei Idomeni zu schließen. Die sogenannte Balkanroute, auf der zuvor zahllose Menschen nach Nordeuropa gelangten, war dicht. Von einem auf den anderen Tag saßen 60.000 Flüchtlinge in Griechenland fest – einem Land, das sie nicht wollte und in dem sie nicht bleiben wollten. Zurück in die Heimat war für die große Mehrheit keine Option. Was also tun?

fluechtlingslager

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze

dpa, Fotograf: Kay Nietfeld

Die Mehrheit von ihnen ist auch ein Jahr später noch dort – und jeden Tag kommen an den Stränden der Ägäisinseln weitere Menschen an. Rund 50.000 Migranten und Flüchtlinge leben nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks heute in Griechenland. Wie viele Afghanen darunter sind, ist unklar, geschätzt sind es 25 Prozent.

 

„Man hat uns signalisiert, dass wir willkommen sind. Und als wir dann da waren, hat man uns die Tür vor der Nase zugeschlagen.“

 

Die ersten Monate nach der Grenzschließung sind das reine Chaos: Nicht nur in Idomeni, überall im Land leben Menschen in improvisierten Zeltlagern, etwa am Hafen von Piräus. Auf dem Athener Viktoriaplatz schlafen afghanische Großfamilien wochenlang unter freiem Himmel. Nach und nach stampfen die griechischen Behörden riesige Massenunterkünfte aus dem Boden, doch viele Afghanen trauen sich anfangs nicht dort hin. Nur wer sich registrieren lässt, kann auch abgeschoben werden, so ihr Gedanke. Und viele hoffen zu diesem Zeitpunkt noch, dass die Grenze bald wieder geöffnet wird. Auch Azad kann nicht glauben, dass er sich über Europa so getäuscht hat: „Man hat uns signalisiert, dass wir willkommen sind. Und als wir dann da waren, hat man uns die Tür vor der Nase zugeschlagen.“

 

Monatelang lebt er in Schisto, einem großen Zeltcamp in der Athener Peripherie. Als der Sommer beginnt, kann er nachts vor Hitze nicht schlafen. Wird er krank, sind Schmerztabletten das Beste, worauf er hoffen kann. Täglich isst er abgepackte Croissants und Kartoffeln und sieht zu, wie 15-jährige Jungen beginnen, sich selbst zu verletzen oder aus Geldnot anschaffen gehen. Die Situation im Camp erinnert ihn an Afghanistan – auch weil es nicht von einer NGO, sondern vom griechischen Militär betrieben wird: „Das Geld verschwindet hier immer in den Taschen der großen Player“, sagt er. „Wie bei uns.“

 

Nach einigen Wochen gesteht Azad sich ein, dass die Grenze geschlossen bleiben wird. Was also tun? Nach Afghanistan zurück kann er nicht, sein Leben sei dort in Gefahr, sagt er. Sich von Schleppern auf ein Containerschiff oder unter einen Lkw schmuggeln zu lassen, wie es viele junge Afghanen tun, ist ihm zu riskant. Zwar gibt es seit Ende 2015 das Relocation-Programm, bei dem Flüchtlinge aus Griechenland und Italien nach einem Quotensystem auf verschiedene EU-Staaten verteilt werden. Doch Afghanen können sich nicht dafür bewerben, in Griechenland steht es praktisch nur Syrern offen. Die Tendenz, Afghanen zu einer Art Flüchtlinge zweiter Klasse zu degradieren, gibt es in ganz Europa. Sie stehen unter dem Generalverdacht, „nur“ Wirtschaftsflüchtlinge zu sein. Weil Teile Afghanistans vielen europäischen Regierungen mittlerweile als sicher gelten, sinken seit 2015 die Anerkennungsraten für Asyl. Doch in kaum einem Land ist es für sie so schwer, sich dagegen zu wehren, wie in Griechenland, wo Rechtsberatung, wenn überhaupt, nur von Freiwilligen angeboten wird.

 

In einem Zentrum für Start-ups und NGOs mag Azad die Atmosphäre: Es fühlt sich an wie Europa

 

Dennoch bleibt Azad wie den meisten seiner Landsleute letztendlich nur ein Weg: Er beantragt Asyl in Griechenland. Obwohl er in diesem Land bisher nur Enttäuschungen erlebt hat und keine Ahnung hat, wie er überleben soll, wenn er tatsächlich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekommt. Denn in Griechenland haben nur Asylsuchende Anspruch auf einen Schlafplatz und drei Mahlzeiten am Tag in einer der Massenunterkünfte. Wer als Flüchtling anerkannt ist, muss ausziehen und bekommt keinerlei Unterstützung mehr vom Staat. Arbeiten ist erlaubt, trotzdem rechnet sich Azad zunächst keine Chancen aus. Im krisengebeutelten Griechenland werden mittlerweile selbst die einfachsten Arbeiten von Akademikern erledigt.

Doch Azad hat Glück im Unglück: Über seinen Asylantrag hat die vollkommen überlastete griechische Asylbehörde zwar bis heute nicht entschieden. Doch auf der Suche nach einer Behörde gerät er durch Zufall ins „Cube“, ein Zentrum für Start-ups und NGOs im Athener Anarchistenviertel Exarchia. Azad, der in Afghanistan eine Ausbildung bei einem großen TV-Sender gemacht und vor seiner Flucht angefangen hatte, Jura und Politik zu studieren, mag die Atmosphäre: lauter gebildete junge Menschen aus aller Welt, die gemeinsam etwas verändern wollen. Es fühlt sich an wie Europa.

 

Zuerst arbeitet er bei einem mehrsprachigen Online-Radio mit, berichtet über die Missstände in seiner Unterkunft und interviewt einen afghanischen Rocksänger. Als das Radioprojekt irgendwann den Weg vieler Start-Ups geht und die Arbeit einstellt, hat Azad im „Cube“ längst neue Kontakte geknüpft. Eine NGO bietet ihm einen Job an: Sie braucht Leute, die neben Englisch auch Farsi und Arabisch sprechen, um Kontakte in die Flüchtlingscamps zu knüpfen. Denn mittlerweile ist klar, dass die Massenunterkünfte trotz aller Kritik von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch so schnell nicht verschwinden werden. Allein im Großraum Athen leben bis heute rund 10.000 Menschen auf Industriebrachen, in ausgedienten Stadien und sogar auf einem stillgelegten Flughafen.

 

Seit dem Rücknahmeabkommen leben die Afghanen in Angst. Immer wieder machen Gerüchte über Massenabschiebungen die Runde

 

Ironischerweise ermöglicht gerade dieser Job es Azad, sein Zelt endlich zu verlassen und sich eine kleine Wohnung zu suchen. Doch wirklich genießen kann er den persönlichen Erfolg nicht. Auch wenn der Menschenkäfig auf Chios das Schlimmste ist, was er bisher gesehen hat: Bei seiner Arbeit ist er fast jeden Tag mit dem Elend seiner Landsleute konfrontiert – und es macht ihn krank. „Sie können nichts tun außer essen und schlafen, sie sind verzweifelt.“ Der Tiefpunkt kommt, als die EU im Oktober 2016 ein Rücknahmeabkommen mit der afghanischen Regierung schließt, um Abschiebungen zu erleichtern. „An diesem Tag ist für die Afghanen hier eine Welt zusammengebrochen“, sagt Azad. Seitdem lebten sie in ständiger Angst. Immer wieder machen in den Camps Gerüchte über Massenabschiebungen die Runde. Auch wenn sie sich bislang immer als falsch erwiesen haben, ist Azad wütend: „Viele von uns mussten genau wegen dieser Regierung fliehen und jetzt verhandelt Europa mit ihr? Das ist falsch.“

 

Besonders die vielen Kinder und Jugendlichen in den Unterkünften bereiten ihm schlaflose Nächte. Doch zugleich sind sie seine große Hoffnung. Denn Azad wünscht sich nichts mehr, als dass eine junge Generation von Afghanen die Möglichkeit bekommt, Erfahrungen fernab des Krieges zu sammeln, sich zu bilden – um irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und gemeinsam das Land neu aufzubauen. „Die jungen Afghanen haben was im Kopf, ich kann es in ihren Augen sehen, selbst hier in den Lagern.“ Trotz des Elends lernen viele auf eigene Faust Englisch, erzählt er, reden andauernd über Schule und Ausbildung. „Und wer weiß“, überlegt, „vielleicht ist diese Erfahrung hier wichtig für ihre Entwicklung, vielleicht lernen sie etwas darüber, wie Politik funktioniert.“ Mit einigen Kollegen plant er jetzt, Journalismus-Workshops für die Jugendlichen in den Camps anzubieten. Laut denkt er darüber nach, ob vielleicht sogar das griechische Bildungsministerium für eine solche Initiative zu gewinnen wäre. Azads Glaube an Europa – irgendwo tief drinnen scheint noch etwas von ihm übrig zu sein.

 

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