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"Oft fehlt diesen Männern die Erfahrung mit Frauen als Respektspersonen"

Illustration: Jessy Asmus

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Eine Interviewserie zum Thema Integration – und dem Frauenbild von Flüchtlingen. Und von uns.

Folge 4: Ein Gespräch mit dem Migrationsforscher Wolfgang Kaschuba

Prof. Wolfgang Kaschuba ist Ethnologe und Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung

jetzt: Herr Kaschuba, alle sprechen darüber, dass unter den Tätern von Köln viele Männer mit Migrationshintergrund und Flüchtlinge waren. Wie sollen wir mit dieser Nachricht umgehen?

Prof. Kaschuba: Uns darüber bewusst sein, dass die vor dem Dom vermutlich die Verlierer waren, die noch nicht Angekommenen – deren Desorientierung kann in Aggressivität umschlagen. Das rechtfertigt keinen einzigen Übergriff, kann sie aber vielleicht erklären. Dazu kommt erstens, dass Sylvester „Party“ meint, da sind Regeln schwerer einzuhalten als sonst. Zweitens, dass wir es mit einer Masse von junger Männer zu tun hatten, die als Gruppe, als Menge, dazu alkoholisiert, ohnehin zu Übergriffigkeiten neigen. Und drittens befand sich diese Menge an traditionellen Treffpunkt der „Fremden“: auf dem Bahnhofsplatz. 

Spielte das Frauenbild der Täter eine Rolle?

Übergriffigkeit von jungen Männern kennen wir von New Yorker Unis bis hin zum Oktoberfest. Das ist kein importiertes Problem. Das Frauenbild muss in diesem Zusammenhang also auf jeden Fall thematisiert werden – aber zunächst im Rahmen der Übergriffigkeit von jungen Männern. Erst danach kommt die Frage nach deren Herkunft. Wenn wir als Reaktion auf Köln sagen: Flüchtlinge und Muslime sind das Problem, behaupten wir damit auch, Abschiebung sei die Lösung – und dann geht es in die falsche Richtung. 

Köln mal außen vor gelassen: Stimmt es, was gerade oft behauptet wird, nämlich dass die meisten Geflüchteten aus patriarchalischen Gesellschaften kommen? 

Manche kommen sicher aus familiären und gesellschaftlichen Milieus, die nach unseren Maßstäben intolerant sind, oft patriarchal und hierarchisch – viele aber eben auch nicht. Wir sollten da auf keinen Fall entlang einer Grenze diskutieren, an der wir vermeintlich immer auf der einen Seite stehen und „die“ auf der anderen. Die Grenze verläuft eher im Zickzack – Migranten sind keine besseren Menschen als wir, sondern sie sind wie wir.

Und wie sollen wir mit denen umgehen, die aus solchen patriarchalischen Milieus kommen?

Sie müssen möglichst schnell in gemischte Lebenswelten hineinkommen, in Alltage mit Männern und Frauen, vor allem auch Frauen, die Staat, Gesellschaft und Autorität verkörpern. Oft fehlt diesen Männern einfach die Erfahrung mit Frauen als Respektspersonen. Und im Ghetto des Flüchtlingsheims können sie die auch nicht machen.

Das Flüchtlingsheim verstärkt das Problem also?

Ja, denn wenn wir diesen Menschen nicht helfen, möglichst rasch ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, muten wir ihnen hohen Stress zu. Oft kommt gerade auch das frauenverachtende Verhalten männlicher Flüchtlinge daher, dass sie sich selbst hilflos fühlen. Dass sie das Gefühl haben, hier als anonyme, verdreckte Masse anzukommen, in der sie ihre Individualität und Würde nicht mehr bewahren, nicht mehr „verkörpern“ können. Wie Kinder müssen sie immer fragen, wo es langgeht, müssen immer „Danke“ sagen, obwohl sie gerne auch mal großzügig „Bitte“ sagen würden. Das geht aber nicht ohne Sprachkenntnisse und ohne Arbeit. So haben sie nichts mehr, was ihre gewohnte Autorität stützt. Und eine Form, mit dieser Hilflosigkeit umzugehen, ist leider Gewalt.

Wie soll ich als Frau in Situationen reagieren, in denen ich merke: Dieser Mann ist eigentlich einen anderen Umgang mit Frauen gewohnt?

Man muss in solchen Situationen die beiderseitige Irritation mitbedenken – und wenn möglich darüber reden, was geht und was nicht. Viele jungen Männer, die nach Deutschland kommen, haben auch einfach Angst vor einem gleichberechtigten Umgang mit Frauen, weil sie bisher nur restriktive Kommunikation mit dem andern Geschlecht kennengelernt haben.

In der Integrationsdebatte wird gerade viel von unserer „Leitkultur“ gesprochen, zu der auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander gehören soll. Gibt es die überhaupt?

Die Diskussion über die „Leitkultur“ ist eher ein Schuss hinter den Ofen der Stammtische. Denn wir integrieren nicht in Leitkulturen – nicht einmal in Bayern –, wir integrieren in Lebensstile. Lebensstile bilden die Arenen unseres Alltags. Ihre Regeln hängen vom Geschlecht, der Bildung und dem sozialen Status ab. Und wir leben darin bestimmte Werte, wie sie sich in Familie und Freizeit, durch Musik und Mode, in Esskulturen und Gottesdiensten als gemeinsam oder unterschiedlich herausstellen. Dazu gehört auch die Frage, wie ich mit dem anderen Geschlecht umgehe. Wenn ich also etwa einem rein religiös bestimmten Lebensstil folge, entferne ich mich damit sicherlich von der Mehrheit. Aber das tun Veganer auf ihre Art natürlich auch. Jeder, der einen radikalen Lebensstil pflegt nach dem Motto, „nur so und nicht anders“, tut das.

Muss man also fragen, welchen Lebensstil jemand gewohnt ist, um herauszufinden, in welchen er sich am besten integrieren kann?

Wichtiger noch als die Frage „Woher kommst du und wer bist du?“ ist die Frage „Wer und was willst du sein?“ Damit reden wir über Erfahrungen und Fähigkeiten, über Selbstentwürfe und Wünsche. Und diese kleine, persönliche Utopie hilft Menschen, die neu angekommen sind, dann auch dabei, selbst bald Lotsen zu werden. Als Polizistinnen und Dolmetscher, als Psychologen und Erzieherinnen, die sich mit ihrem besonderen Wissen um die kümmern, die nach ihnen ankommen. Das ist eine Grundidee der Einwanderungsgesellschaft.

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