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"Es ist ein Schlachtfeld"

Foto: Denis Charlet / afp

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jetzt: Was den Flüchtlingscamps an der griechisch-mazedonischen Grenze droht, ist in Frankreich bereits passiert: Vor kurzem haben die  Behörden begonnen, den "Dschungel von Calais"zu räumen. Du bist gerade zum dritten Mal dort, um zu arbeiten. Was hat sich dort verändert? 

Kathrin Schug: Im Februar hatten Helfer ungefähr 1000 Hütten gebaut. Das war eine wirkliche Verbesserung für die Leute, die so nicht mehr in ihren nassen Zelten schlafen mussten. Und diese Hütten wurden jetzt abgerissen. Wo vor einem Monat noch 700 Leute gelebt haben, ist jetzt ein Schlachtfeld. Abgebrannte Hütten, planierte Areale. Insgesamt soll die Räumung aber friedlich verlaufen sein, auch wenn die Stimmung merklich gedrückter ist. Die ungefähr 3000 Menschen im „Dschungel“ wissen einfach nicht, wie es weitergeht. Es kann niemand sagen, ob diesen Monat noch alles platt gemacht wird. Die Grenze nach Großbritannien ist geschlossen. Auf den Flächen, wo bis letzte Woche die Hütten standen, spielen Kinder jetzt jeden Tag Cricket.

Was bedeutet das für die Leute, die nicht mehr im „Dschungel“ bleiben können?

Sie haben die Wahl, in einen Bus zu steigen, der sie zu einem Registrierungszentrum irgendwo in Südfrankreich fährt. Oder sie können in Container ziehen, die von der französischen Regierung aufgestellt wurden. Aber das wollen die meisten nicht, weil sie dann ihren Fingerabdruck abgeben müssten. Zwar sagt man ihnen, dass sie damit nicht registriert sind und trotzdem weiterreisen können, aber sie trauen der Polizei nicht.

Warum nicht?

Das Camp wurde in den vergangenen Wochen nachts immer wieder mit Tränengas beschossen. Ich habe mit Ärzten gesprochen, die Kinder mit mehrfachen Handbrüchen behandelt hatten. Diese Kinder haben glaubhaft versichert, dass Polizisten sie geschlagen hätten.

Aber wenn sie das Angebot der französischen Regierung nicht annehmen, was machen sie dann?

Sie ziehen mit dem, was sie haben, in den Wald. Oder bewegen sich in Richtung der belgischen Grenze, kampieren dort irgendwo und hoffen, dass sie irgendwann zurückkommen können. So wie es schon zwei Mal war.

Wie meinst du das?

Der „Dschungel“ wurde schon zwei Mal abgerissen. 2004 und 2009. Nach den  Räumungen wurde das Camp aber jedes Mal wieder aufgebaut.

Seit wann gibt es den Dschungel eigentlich?

Ungefähr seit der Jahrtausendwende, seit 1999, aber genau kann das niemand sagen. Juristisch gesehen ist das Camp eine illegale Siedlung; direkt an der Küste, in den Dünen von Calais. Die Menschen leben hier in Zelten, weil sie in Frankreich kein Asyl bekommen haben oder beantragen wollten, und versuchen, nach England zu kommen. Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Menschen hier leben oder gelebt haben. Aber seit vergangenem Sommer ist es explodiert. Im „Dschungel“ vegetieren mitten in Europa ein paar tausend Leute völlig sich selbst überlassen vor sich hin.

Haben sich denn über die lange Zeit nicht auch irgendwelche Sozialstrukturen entwickelt?

Ja, es gibt quasi-urbane Strukturen. Es ist eine wirkliche kleine Stadt entstanden. Mit Restaurants und Cafés. Es gibt eine Schule, Friseure, ein Sprachzentrum, einen Raum für Mütter und Kinder, ein Theaterzelt wo Konzerte stattfinden und ein Hamam, wo man für drei Dollar warm duschen kann.

Und die Versorgung wird nur durch freiwillige Helfer wie dich organisiert?

Genau, es gibt eine große Organisation, für die ich auch arbeite. Sie heißt L'Auberge des Migrants und versucht, die Geflüchteten spendenfinanziert mit Essen und Kleidung zu versorgen, außerdem baut sie behelfsmäßige Hütten aus Holz und LKW-Planen. In einer 20 Quadratmeter großen Küche werden jeden Tag 2000 Essen gekocht. Ich habe heute in einer alten Fabrikhalle den ganzen Tag gespendete Jeans nach Größen sortiert.

Woher kommen die Helfer ?

Die meisten aus Großbritannien. Viele haben ihren regulären Job aufgegeben und leben für mehrere Monate hier. Als ich letztes Weihnachten das erste Mal in Calais war, kamen jeden Tag 200 Leute aus der ganzen Welt, von Uruguay bis Deutschland im „Dschungel“ an, um zu helfen.

Wie war damals dein erster Eindruck des Camps?

In Calais anzukommen, war ein Schock. Das erste, was man sieht, sind acht Meter hohe Zäune, Nato-Stacheldraht, patrouillierende Polizisten, Blaulicht, Hunde. Eine Hochsicherheitszone, die aussieht wie ein Kriegsgebiet. Eine humanitäre Katastrophe. Ich war schon oft in Frankreich, aber dieser Kontrast fühlte sich krass an. Ich hatte eben das Gefühl, nicht mehr in Europa zu sein, sondern mich in einem Slum irgendwo in der dritten Welt zu bewegen. Menschenunwürdiges Leben, einen Steinwurf entfernt von schmucken Einfamilienhaussiedlungen. Und als ich dann im Camp war, wurde ich als erstes zum Tee eingeladen. An Silvester haben Helfer und Geflüchtete zusammen mit Apfelsaft angestoßen. Es gab ein Feuerwerk. Und in dem Moment bekam ich die Eilmeldung aufs Handy, dass der Münchener Hauptbahnhof wegen einer Terrorwarnung geräumt wurde. Ich dachte: Interessant, mitten im "Dschungel" fühle ich mich gerade sicherer, als ich mich am Münchener Hauptbahnhof fühlen würde. 

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Illustration: Julia Schubert

Warum beantragen die Leute im Camp denn nicht einfach Asyl in Frankreich?

Ich habe das anfangs auch nicht verstanden. Es steht jedem frei, einen Asylantrag in Frankreich zu stellen. Aber das sind alles Leute, die unbedingt nach England wollen. Viele Leute haben dort Familie, kennen Menschen, bei denen sie wohnen oder arbeiten könnten. Gerade die etwas Älteren, die ich gefragt habe, warum sie es nicht in Deutschland versuchen, haben mir gesagt, dass sie nie eine andere Sprache gelernt hätten als Englisch. Sie glauben, dass sie es in Deutschland nicht schaffen würden, die Integrationskurse zu bestehen. Und außerdem haben sie alle eine total idealisierte Vorstellung von England. Das Land ist für sie das absolute Paradies.

 

Was glaubst du, was in Calais als nächstes passiert?

Jedem, der hier hilft, ist bewusst, dass er dieses Problem nicht lösen kann. Wir arbeiten hier, damit niemand erfriert oder verhungert. Der Seele von "L'Auberge des Migrants", einem älteren Mann, sage ich immer, wenn ich abfahre: bis zum nächsten Mal. Und er antwortet: Ich hoffe, dass wir dann nicht mehr hier sein müssen. Calais ist ein Sinnbild für die Überforderung der EU mit der Flüchtlingssituation. Einen Ausblick auf die Zukunft des "Dschungels" zu geben, würde bedeuten, einen Ausblick auf die komplette Krise zu geben. Und das ist sehr schwierig.

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