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Anna, Studentin
„Den musst du unbedingt mal kennenlernen!“ So redet man über Menschen aus dem Freundeskreis, die man für das bewundert, was sie machen oder wer sie sind. In der Kolumne „Zu Gast bei Freunden“ lernt unser Autor genau diese Menschen in München kennen – die Person, die er vorstellt, sagt, wen er als nächstes kennenlernen soll. Vorangegangene Folgen stehen hier.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ich leb’ doch für den Moment, sagt Anna.
Anna Weileder hat einen Blick wie einen festen Handgriff. Man kommt ihren braunen Augen nicht so leicht aus. Sie bestellt Marlboro Medium an ihren Cafésitzplatz am Englischen Garten und erzählt ihre Münchner Geschichte; ein Leben zwischen Putzbrunn und Schwabing, zwischen Supermarkt und Superküche, zwischen Vorlesung und Vorspeise, eine kleine Pendelei in den Grenzen der Stadt. Anna studiert im siebten Semester Literatur, Psychologie und Archäologie an der LMU und widersteht bislang dem komischen Druck, ihr Studium mit Ortswechseln personalcheftauglich zu machen. „Ich hab’ nicht das Gefühl, dass ich ins Ausland muss, um mich zu finden“, sagt sie. „Ich glaube, ich kann mich auch in München ganz gut finden und dazulernen.“
Die Eltern in Putzbrunn sind Polizist und Lehrerin und machen aus ihrer Tochter einen Menschen, der sich sein Leben selbst verdienen soll. Anna setzt sich mit 14 in den Supermarkt um’s Eck und sagt: „Vier Cent zurück, vielen Dank und einen schönen Tag noch.“ Sie verdient ihr erstes Geld als Kassiererin. „Ein schlimmer Job“, sagt sie. „An der Kasse vergeht die Zeit einfach nicht.“ Gegen Ende der Schulzeit kellnert sie und kommt nicht mehr weg aus der „Gastro“. Der Anruf eines Freundes von einem Freund befördert sie nach dem Abitur in die Dienste von Sternekoch Holger Stromberg. „Nimm einen Teller in die Hand, geh zu Tisch vier und decke im dritten und vierten Gang Fisch und Suppe ein“, sagen sie ihr und wochenlang beklagt sie sich Abend für Abend bei ihren WG-Mitbewohnerinnen, sagt, dass sie am je folgenden Tag kündigen werde – die Ansprüche zu hoch und der Umgang zu schroff, die höhere Gastronomie schmeckt zwar, ist aber anstrengend. Doch Anna bleibt zäh und erlebt später auch in anderen gehobenen Restaurants das, was andere im Erasmus-Programm suchen: Abstand von der gewohnten Welt und das erhebende Gefühl, dass die Dinge am schönsten sind, die anfangs am anstrengendsten wirken. Anna findet sich ein in den Service, sie lernt, den Gästen zu schmeicheln, vielleicht hilft der Blick dabei. Kellner sind nicht nur Tellerträger. Anna erlebt Paare, die sich schon beim Essen zum zweiten Hochzeitstag nichts mehr zu sagen haben. Dann liefert sie einen Gesprächsanlass.
Bis zu sechs Mal die Woche führt sie das Doppelleben so vieler Münchner Studenten, die nachts nach Kellner-Arbeit im Bett liegen und morgens um neun in der Universität sitzen und zum Beispiel Vorlesungen über Karl Philipp Moritz hören. Der Zeitgenosse Goethes, sagt Anna, definierte den Begriff des Schönen ganz anders: „Ihm geht es um den Moment der Betrachtung“, schwärmt Anna. Mit 15 Seiten Karl Philipp Moritz könne man zwei Wochen zubringen. „Er definiert Dinge, die ich so nicht einmal ausdrücken könnte.“
Was hat sie in der Archäologie gelernt? „Scherben taugen nicht, um Menschen zu charakterisieren.“ Gastronomie? „Du musst die Menschen lieben. Jeden Tag.“ Psychologie? „Wissen schafft Gelassenheit.“ Und was wird nun daraus? „Du fragst Sachen“.
Anna spricht von ihrem Spaß an den Moritzschen Momenten, von einer Bar oder einer Promotion, „mein Weg ist doch nicht vorgezeichnet“, sagt sie. Geht doch gerade erst los, dieses Münchner Leben, 25 Jahre alt.
Anna sagt, „nächste Woche musst du unbedingt den Hannes kennenlernen“. Er arbeitet für die Liebe.
Text: peter-wagner - Foto: Jürgen Stein