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Auszug aus Theresa Bäuerleins Buch "Das war der gute Teil des Tages"

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Zu Hause, München. In den letzten Monaten haben sich alle beklagt. Vor allem über ihre Studien, die unaufhaltsam dem Ende entgegenbröckelten. Natürlich lag das Problem nicht in den Seminaren, sondern darin, dass wir sie einst in der Hoffnung betreten hatten, etwas über das Leben zu lernen. Insgeheim fand ich, dass die Uni mir vor allem auf sehr sanfte Art erlaubt hatte, erwachsen zu werden, und empfand wilden Respekt vor Menschen, die mit sechzehn begonnen hatten, das harte Brot der Supermarktkassierer zu verdienen. Abgesehen davon stellte sich das, was ich mir in der Grundschule unter einem glamourösen Studentenleben vorgestellt hatte, weil ich nach ein paar schwachsinnigen Soaps süchtig gewesen war, sehr schnell als müde Angelegenheit heraus, die ohne massenweise Bier einfach nicht funktionierte. Ab dem zweiten Semester bekam ich chronische Rückenschmerzen von der krabbenhaften Haltung, die ich in den Holzsitzen der Hörsäle einnahm, während vorne ein akneverkrusteter Statistik-Tutor mit schwarzem Filzstift Projektor-Folien einsaute. Dazu kam das beklemmende Gefühl, dass wir alle an einem Spiel teilnahmen, das »Jung sein« hieß und das nur dann vorwärtsging, solange wir uns selbst darin ernst nahmen. Und weiter tranken. Wild finden so etwas nur Erstsemester und Menschen, die schon seit zwanzig Jahren mit ihrem Studium fertig sind und in der Rückschau die beste Zeit ihres Lebens an der Menge der gefeierten Partys festmachen, ohne daran zu denken, dass sie sich bei der Hälfte der Partys deprimiert gefragt haben, wozu sie überhaupt geboren wurden. Bei mir stand »Kommunikation« auf dem Studienbuch, weswegen ich mit Menschen Referate hielt, die das Fach gewählt hatten, die wie ich keine Talente hatten, aber sprechen konnten. Die wenigen Jungs in meinem Studiengang hatten teure Haarschnitte und trugen eckige, schwarze Brillen; die weiblichen Studenten erfüllten die Bibliothek mit dem harten Stakkato ihrer Stilettos. Ich fürchtete den Tag, an dem ich vor der Eingangstür einen röchelnden Menschenstapel finden würde, entstanden durch eine einzelne Studentin, die mit steilem Absatz in der Türschwelle stecken geblieben sein würde, und einer Masse Kommilitonen, die das Problem nicht rechtzeitig erkannt hatten. Meine Freunde studierten Geistes- und Sozialwissenschaften, die meisten schrieben gelegentlich Bewerbungen für Praktika in Werbeagenturen und Verlagen, und ab und zu schickten diejenigen, die Absagen bekamen, eine Bewerbung für ein Millionenquiz im Fernsehen ab. Viele arbeiteten in Callcentern, wo sie Handys verkauften oder Tischstaubsauger-Kunden halfen, die ihre Geräte mit dem Aufsaugen einer Karaffe Apfelsaft geschrottet hatten. Dabei konnte sich scheinbar niemand vorstellen, zwanzig Jahre lang denselben Job zu machen, aber alle versuchten, an genau so einen Job heranzukommen. Die Pärchen in meinem Freundeskreis zimmerten gemächlich immer stabilere Nester, zogen nach und nach zusammen und richteten Wohnungen ein, in denen die Tischsets farblich zum Teppichboden passten. Meine Freunde schienen das Leben stufenweise zu planen, und jede Stufe hatte ihre eigenen Regeln. Mit Erreichen des letzten Studiensemesters musste man offenbar das splitternde Secondhandzeug wegwerfen und solide Möbel besorgen. Mein Freund, der mir einst Kiffen und Klauen beigebracht hatte, fing an, samstags Ausflüge ins Möbelhaus zu machen und Birkenfurnier schön zu finden. Was natürlich nicht der Grund dafür war, dass ich von ihm weggegangen bin, aber es setzte dem Berg Zweifel, den ich privat gesammelt hatte, eine nette Spitze auf. Allein, wenn ich an Bettwäsche im Zweierpack dachte, bekam ich das Gefühl, dass meine Atemluft dünner wurde. Bei allen anderen schien das Gefühl, dass etwas ganz grundsätzlich nicht stimmte, mit den Jahren schwächer zu werden, bei mir wurde es groß und stark und erdrückte mit seinem mächtigen Hintern den Teil meines Gehirns, der für Zukunftsplanung zuständig war. Es war, als würde ich durch Pudding waten, das Leben wurde immer langsamer. Wenn ich zwei, drei Bier getrunken hatte, erklärte ich jedem, der es wissen wollte, und auch allen anderen, dass ich demnächst wegfahren würde, weit weg, um meine Seele zu retten, bevor es zu spät war. Am nächsten Morgen lachte ich darüber. Aber diese Morgen wurden so häufig, dass mein eigenes Lachen zu einem Geräusch wurde, das mich im Schlaf verfolgen konnte. Mein Freund wollte mit mir zusammenziehen. Das vor allem, weil ihm manches sinnlos schien und er wohl dachte, dass eine bröckelnde Beziehung immer noch besser war, als gar keine Aufgabe im Leben zu haben. Für mich wurde er damit zu einem weiteren Menschen, der Erwartungen hatte, die ich nicht teilen wollte. Je mehr von seinem Zeug er in mein WG-Zimmer schaffte, desto mehr ging es mit meiner Stimmung bergab. Ich bin morgens aufgewacht und hätte das Tageslicht am liebsten sofort wieder abgeschaltet. Ich sah nach draußen, auf die Menschen, die Erdbeeren kauften, in Trambahnen stiegen, der Himmel ein stechendes, hässliches Blau. Elfjährige Mädchen trugen Tops und Hotpants und sahen darin aus wie 40-jährige Barkeeperinnen, die sich an ihrer Jugend festklammerten. Frauen in meinem Alter banden sich die Zöpfe mit rosafarbenen Blüten zusammen und kauften Ballerinaschlappen in Boutiquen, in denen Schalen mit sauren Gummischlangen herumstanden. Ich dachte daran, dass jemand anders diesen Himmel vor meinem Fenster sehen und sofort einen Picknickkorb packen würde. Es war alles ein Trick des Gehirns, und ich hatte Phantomschmerzen: Mit den Jahren hatte ich etwas verloren, und ich spürte den Verlust, als wäre eine Abrissbirne durch mich hindurchgegangen. Ich wusste ganz sicher, dass ich es einmal geliebt hatte, hier zu sein. Ich dachte daran, wie es war, Kastanienbäume schön zu finden, und das verkniffene Gesicht der Käsefrau am Elisabethplatz potthässlich. Aber die Welt wurde weich, und nichts, nichts hatte wirklich eine Farbe, und alles tat weh. Ich dachte daran, wie verwöhnt ich war und wie es denn verdammt nochmal sein müsste, damit es sich besser anfühlte. Die erschreckende Erfahrung bestand darin, dass ich feststellte: es gab keine Normalität. Es gab nur eine Idee davon, die Sicherheit versprach, in Wirklichkeit aber nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hatte. Zweier-Beziehungen zum Beispiel. Auf einmal waren mein Freund und ich ein Paar gewesen, ein Zusammensein ohne Nachdenken. Nur weil wir gelernt hatten, dass man sich zu zweit zusammentut, wenn man sich liebt. Wieso sollte das glücklich machen? Ich stand stundenlang am Fenster meines Zimmers und rauchte dramatisch eine Zigarette nach der anderen, bis alle Luft in meinem Zimmer grauer Nebel war. Dabei war mir klar, dass ich das perfekte Motiv für eine Titelgeschichte über die Quarterlife-Crisis abgab. Das widerte mich noch mehr an. Meinen Freund hat es verrückt gemacht. Wenn er nach Hause gekommen ist, hat er sofort die Fenster aufgerissen, sich an den Computer gesetzt und Wohnungsannoncen durchsucht. Sobald er damit fertig war, kostenlos für Werbeagenturen zu arbeiten, also nachdem seine Praktika vorbei waren, lebte er fast nur noch zu Hause vor dem Monitor. Wohnungsanzeigen, eine nach der anderen, als hätte eine ordentliche Wohnung alles retten können, als hinge es nur von dem Verhältnis Quadratmeter zu Preis ab. Und dann kam ich eines Abends vom Einkaufen nach Hause, ließ einen Rucksack voll Joghurt und vegetarischen Discounter-Burgern auf den Fußboden im Flur fallen und wünschte mir, dass er nur dieses eine Mal nicht auf mich warten würde. Ich drückte meine Zimmertür auf und fluchte innerlich, er saß wie immer auf dem hellblauen Teppichboden, in der linken Hand eine Kaffeetasse, die rechte Hand auf der Maus. Das Zimmer roch nach altem Rauch und Wäschekorb, in der Luft hing das hohe Sirren des Computers. Selbst nachts ließ er ihn an, damit er pausenlos Musik und Filme herunterladen konnte, die er dann auf CDs brannte, ins Regal stapelte und nie wieder ansah. »Hey«, sagte er, ohne den Kopf zu mir zu drehen. »Hallo«, erwiderte ich lahm. Neben ihm seine Kaffeetasse. Er durfte das; aber wann immer ich an seinem Computer Kaffee trinken wollte, bekam er hysterische Zuckungen. Meine Beine machten sich aus Gewohnheit selbständig, gingen durch das Zimmer, knickten neben ihm ein, brachten meine Lippen auf seine Wangenhöhe. Ich drückte zu, es knallte. Seine Wangen formten Grübchen. »Ich hab vielleicht was gefunden«, informierte er mich geschäftsmäßig, »zwei Zimmer in Haidhausen, Altbau. Wir müssten renovieren, aber das dürfte ja kein Problem sein.« Ich ließ mich neben ihm auf den Boden fallen. Der Bildschirm war bedeckt mit Linien, Kästchen, Buchstaben und Fotos von leeren Räumen mit weißen Wänden und Parkettfußboden. »700 Euro, kalt. Nicht wahnsinnig billig, aber machbar.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich zerrte an einem länglichen Wollfaden, der aus dem Teppichboden ragte. Er seufzte ungeduldig. »Wir haben doch alles besprochen.« »Eben.« »Was, eben?« »Ich will immer noch nicht mit dir zusammenziehen.« »Ach, das klang letzte Woche aber noch ganz anders.« »Nein!« Ich stand auf, weil ich unmöglich ruhig sitzen bleiben konnte, blickte auf ihn herunter und sprach sehr deutlich, um den dumpfen, hundertmal gefühlten Ärger in meiner Stimme zu verbergen. »Ich habe gesagt, du sollst nach einer Wohnung für dich schauen, ja. Ich habe auch gesagt, dass wir dann irgendwann … vielleicht zusammenziehen könnten. Nicht jetzt!« Er stand auch auf, blieb aber ruhig. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Wieso sollten wir zweimal Miete zahlen, wenn wir doch ohnehin am Ende zusammenleben. Das sind so um die fünfhundert Euro, die wir jeden Monat sparen könnten.« »Ich ziehe ganz sicher nicht aus Geldgründen mit jemandem zusammen. Was kommt als Nächstes, heiraten, weil wir dann weniger Steuern zahlen?« Ich hörte mich selbst, eine Frau, die ihre wahren Gründe nicht ausspricht, und biss die Zähne zusammen. Er lachte müde. »Was ist am Steuernsparen so schlimm? Werd endlich erwachsen, Lena.« Unsere Blicke trafen einander wie zwei Boxer, die klammern, um kurz Atem zu schöpfen. Ich wusste, irgendwann würde er mich heiraten wollen. Ich mochte das nicht, diese falsche Sicherheit, einen Ring anstecken, einen Ersatzdaddy an sich binden, was hatte das mit Liebe zu tun? Kein Problem für ihn, der glaubte, dass eine gute Ehe mehr als alles andere »auf Partnerschaftlichkeit basierte«. Zweckgemeinschaft, Kinderbrutkasten und später genug Geld für ordentlichen Rotwein. Er machte mich aggressiv. Ich ging einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Erwachsen«, wiederholte ich nüchtern. Er verstand gar nichts. Erwachsensein war für mich das kleinste Problem. Ich habe keine Angst davor, meine Jugend zu verlieren. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie zermürbend und verwirrend das Leben mit fünfzehn ist, wenn man schon vieles ahnt, aber noch nichts entscheiden darf.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das war der gute Teil des Tages ist bei Fischer erschienen und kostet 7,95 Euro.

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