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Das Schöne am Herdenschreiben

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Geschichten werden so geschrieben: Ein Stift. Ein Block. Ein Schreiber, der zweifelt und ausgiebig mit sich ringt, bevor er seine Gefühlsaufwallungen zu Papier bringt. Vielleicht sitzt auch weniger genialisch jemand an einem Bildschirm und haut hoch konzentriert in die Tastatur. Auf jeden Fall ist es ein Schreiber, denn: Schreiben ist etwas, bei dem man alleine ist. Zumindest dachte ich das bis vor eineinhalb Jahren.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ich hatte damals zwar vor Kurzem die jetzt-Gruppe Schreiben_und_Kapitalismus gegründet, aber eigentlich wollte ich erst einmal über das Drumrum reden. „Wie man schreibt. Wie man Leser holt. Wie man Geld dafür bekommt“, hatte ich als Slogan ausgegeben und fleißig Einladungen an User verschickt, deren Texte ich gern las. Dass sich erstaunlich viele davon über Essen beim Schreiben, Literaturagenturen oder den praktischen Nutzen von Schreibmaschinen austauschen wollten, freute mich.

Bloß war es eben nicht so. Texte, die ich zu solchen Themen postete, interessierten niemanden und über die geplante Woche der systematischen Textkritik, wurde sogar herzlich gelacht. „Inge“ dagegen war ein Selbstläufer: „Wenn du magst: Schreib einen Text über Inge und poste ihn am 1. März“ hatte ich spontan per Botschaft gefordert, ohne viel zu erwarten. Vielleicht lernten wir uns mit so einer Schreibaktion ja ein bisschen kennen und so. Tatsächlich schrieben fast alle Gruppenmitglieder eine „Inge“ und posteten sie. „Inge“ war darin oft eine Seniorin, aber auch ein dickes Mädchen und einmal ein Mann. Wie spannend! Der Kosmos reagierte verwirrt, aber die Autoren hatten Spaß: Sie waren neugierig, was den anderen eingefallen war, kommentierten fleißig – und schlugen schon die nächsten Aktionen vor. Offensichtlich fanden sie es schön, beim Schreiben mal nicht allein zu sein. Mir gefiel der Gedanke auch. Schnell war klar, dass es bei „Schreiben_und_Kapitalismus“ vor allem um Schreibprojekte gehen würde.

Doch vor den Projekten stand die Planung. Ideen zu finden, die für alle passten, war oft gar nicht so einfach. Groß angelegte, „basisdemokratische“ Fragerunden, zum Beispiel, brachten im unverbindlichen Internet eher wenig. Oft wollte nämlich gar nicht jeder an der Meinungsbildung beteiligt werden. Ziemlich gut funktionierte dagegen, Strukturen („Tagebuch“) oder halb fertige Ideen („Mietshaus“) ins Spiel zu bringen und sie gemeinsam weiterzuspinnen. Und bei echten Geistesblitzen – wie glitzerkugels „Klassentreffen!“ – meldeten potenzielle Mitschreiber manchmal auch binnen Minuten Interesse an.    

Stand die Idee, ging es an die Umsetzung. Ob es dafür noch viel Vorarbeit brauchte, kam immer auf das Projekt an. War es zum Beispiel ein eher individuelles Projekt wie das Gruppentagebuch zum Thema Mangel, mussten wir nur klären, wer an welchem Tag einen Eintrag postet und wie das Ganze als Aktion erkennbar wird. Dann konnte jeder den „Mangel-Text“ schreiben, auf den er Lust hatte. Beim „Klassentreffen“ dagegen hatten wir uns viel vorgenommen: Wir wollten ein fiktives Klassentreffen aus der Perspektive ehemaliger Klassenkameraden erzählen. Jeder Mitschreiber übernahm dafür eine Rolle, schrieb also zum Beispiel aus der Perspektive von Heike, einer mauerblümchenhaften Atomphysikerin. Weil es dabei auch eine fortlaufende Handlung gab, die die Figuren immer weitererzählten, kam praktisch jede Figur in jedem Text vor. Der Abstimmungsbedarf war enorm.

Um dabei nicht völlig den Faden zu verlieren, legten wir uns ganz spießig einen Schreibplan zu: Jeder schrieb seinen Text an einem bestimmten Tag. Danach wurde der Text  systematisch auf Unstimmigkeiten und Anschlussfehler zu seinen Vorgängern untersucht. Außerdem übten wir Stilkritik. Dass das damals tatsächlich geklappt hat, überrascht mich noch heute. Sicher, wir haben uns dabei nicht nur einmal heftig in die Haare bekommen, aber als wir diese Aktion in den Kosmos gestellt haben, war ich schon ein bisschen stolz. Überhaupt sind die Tage, an denen wir Aktionen posten, besonders. Wie manche andere bin ich dann aufgekratzt und dauer-eingeloggt. Ich lese die ganzen Texte, schaue, was an Feedback kommt, und frage die anderen, wie sie das alles sehen.

Auch, wenn unsere Projekte dank großer Vorankündigung mittlerweile komplett ungeheim sind: In so einer Aktion zu sein, hat trotz allem etwas Verschwörerisches. Man weiß mehr als der restliche Kosmos und man zieht so schön an einem Strang. Muss ich am Posting-Tag internetlos arbeiten, ärgere ich mich sehr. Ich fühle mich dann diffus um einen Tag in der Herde betrogen. Das liegt daran, dass „Schreiben_und_Kapitalismus“ - auch wenn immer wieder neue Mitschreiber dazukommen - mittlerweile eine feste Gruppe ist. Die meisten kenne ich schon ein bisschen. Ich weiß, wie sie ticken, wenn sie Texte schreiben, welche Ideen sie haben und wie sie sich in der Gruppe verhalten. Außerdem habe ich zu jedem schon einmal ein virtuelles Äquivalent von „Muh“ gesagt. Das schafft ein angenehm kuhherdiges Gefühl.

Ein bisschen schade ist, dass es diese Kuhherde bisher nur online gibt. Das muss wohl so sein, denn ihre Mitglieder sind zwischen Bamako, Irkutsk und Berlin weit über den Globus verstreut. Vielleicht sind Schreibgruppentreffen virtuell auch ergiebiger als in einer lauten Kneipe. Und ob wir uns alle so mögen würden, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Trotzdem ist es schade.        

Denn vor dem Computer ist man beim Schreiben dann doch wieder alleine.

Zusammen oder alleine? Die meisten Dinge kann man entweder mit anderen oder nur mit sich selbst tun. Manchmal ist Einsamkeit eine Notlösung, ein andermal wünscht man sich nichts sehnlicher als ein bisschen Ruhe vor anderen Menschen. Und oft ist es im Voraus unmöglich zu entscheiden, welche der beiden Optionen die bessere ist. Deshalb haben wir dem der Frage „Zusammen oder Alleine“ heute ein Gegensatz-Magazin gewidmet. Es geht ums Zusammenwohnen und Sex mit sich selbst. Um das Verreisen ohne Begleitung und das Sporteln ohne Freunde. Ums Herdenschreiben und Orte, an denen Gemeinschaft künstlich hergestellt werden muss.


Text: jetzt-redaktion - Foto: real-enrico / photocase.com

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