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„Eine WG ist der Idealzustand fürs Leben“

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Hamburg-Ottensen ist eines dieser verwinkelt gemütlichen Stadtviertel, die früher von Arbeitern bewohnt, heute aber vor allem von Künstlern, Freiberuflern und jungen Familien erobert werden. Der 58-jährige Taxifahrer Roland Sendel hatte hier sein halbes Leben lang in einer Altbau-WG mit Garten sein Zuhause. Vor zwei Wochen löste er die Wohngemeinschaft auf.

jetzt.de: Roland, in ein paar Monaten hättest du 30-jähriges WG-Jubiläum feiern können. Warum ging es am Ende so weit dann doch nicht mehr?  
Roland: Die letzten Jahre war ich mit einem Kumpel zusammen Hauptmieter der Wohnung. Der ist dann leider vor kurzem ausgezogen, weil er geheiratet und ein Kind bekommen hat. Der Klassiker eben. Vor allem seine Freundin wollte nicht länger in einer WG wohnen. Ab da war ich alleiniger Hauptmieter und hatte plötzlich – in den Augen meiner Mitbewohner – die Rolle des bösen Vermieters inne. Die anderen in der WG haben sich regelrecht gegen mich verbündet.  

Ging es da um die klassischen WG-Probleme: Geklaute Jogurts im Kühlschrank,  ungespültes Geschirr, besetzte Toiletten, wer bringt den Müll runter?  
Das sind Kleinigkeiten. Solche Problemchen gab es ganz am Anfang als ich in den 80er Jahren in die WG eingezogen bin. Damals lebten wir noch zu elft in der Wohnung. Die letzten Jahre waren wir nur noch fünf Leute in der WG. Neben mir waren es vor allem Studenten, die günstig wohnen wollten. Die haben auf formale und faktische Rechte gepocht und ich musste dann schauen, dass die erfüllt werden. Schimmel im Bad, undichte Fenster, so Sachen. Vorher sah man über bestimmte Dinge immer hinweg, es wurde alles lockerer gehandhabt. Für mich war das eine neue Situation, mit der ich nicht klar kam.  

Kein schönes Ende für eine Wohngemeinschaft, die fast drei Jahrzehnte bestanden hat.  
Das hat mir auch alles sehr, sehr weh getan. Ich konnte vor Stress nicht mehr schlafen. Zum Schluss habe ich dann einen Anwalt genommen und die WG aufgelöst.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Roland Sendel

Trotz aller Unstimmigkeiten mit den Mitbewohnern deiner WG. Vermisst du das Leben in der Wohngemeinschaft?  
Was ich am Leben in der WG so toll fand war, dass immer jemand da war, mit dem man sich gemeinsam die krudesten Theorien ausdenken konnte. Wir haben jederzeit Debatten über Dinge wie den Atomausstieg oder unser wachstumsorientiertes Wirtschafssystem führen können. Diese Gespräche vermisse ich schon. Ich bin Taxifahrer. Jetzt bombardiere ich eben meine Fahrgäste mit meinen Theorien.

Wenn du als Taxifahrer aber den ganzen Tag mit Menschen umgeben bist: Hast du nie im Leben eine Wohnung gebraucht, in der du auch mal deine Ruhe hast?  
Das Gefühl, Ruhe zu brauchen, kenne ich nicht. Ich bin Nachtfahrer, man rollert so durch die Gegend, kennt die Ampelphasen. Da hat man eigentlich seine Ruhe. Außerdem: Jeder ist ja prinzipiell immer alleine. Der Vorteil einer WG ist aber, dass die eigene Persönlichkeit und das eigene Tun ständig von vielen unterschiedlichen Leuten reflektiert werden.  

Das hältst du für einen Vorteil? Ein wenig klingt es, als wäre das Leben in einer WG eine nicht enden wollende Therapiesitzung beim Psychoanalytiker.  
Klar, eine WG ist auch immer eine Art Selbsterfahrung. Sie funktioniert nach dem Motto: Erkenne dich selbst. Das hat mir immer gut gefallen. Nur so kann man sich weiterentwickeln.  

Welche Charaktereigenschaften muss man besitzen, um ein Leben lang in einer WG wohnen zu können?  
Man sollte offen sein. Offen gegenüber Veränderung. Es ist doch immer auch Zufall, mit wem man zusammen lebt. Manchmal werden so große, hehre Begriffe zitiert wie „Liebe“. Aber ich habe den Eindruck, dass ins Leben und gerade auch bei Partnerschaften sehr viele Zufälle reinspielen, die man eigentlich annehmen sollte. Ansonsten läuft man Gefahr, dass man sein Leben lang etwas sucht, ohne es zu finden.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Blick in Rolands ehemalige Küche. Das Herzstück einer jeden WG.

Hattest du in deiner alten WG einen Lieblinggegenstand, den du mit in deine neue Bleibe genommen hat?  
Nee, so sentimental bin ich nicht. Wenns zu Ende ist, ist es zu Ende. Das bringt Veränderung eben mit sich.  

Spielt aber nicht auch Bequemlichkeit – also das Bestreben, Dinge eben nicht zu ändern - eine Rolle, dass du 30 Jahre lang nicht aus der WG ausgezogen bist?  
Ja natürlich. Wenn etwas bequem ist, bedeutet es doch, dass es funktioniert. Und warum sollte man dann ausziehen? Vorausgesetzt man wohnt mit Menschen zusammen, die ähnlich gestrickt sind wie man selber, hat man in einer WG immer jemanden, mit dem man Verantwortung teilen kann. Das macht das Leben einfacher. Manchmal hat man doch absolut keinen Bock oder wenig Zeit, einkaufen zu gehen. Wenn man alleine wohnt, ist man gezwungen ständig Dinge zu machen, die gerade zeitlich eigentlich nicht passen. In einer WG kann man zum Beispiel den Freund fragen, ob man mitfuttern darf. Am nächsten Tag hat dann der keine Zeit zu kochen und isst bei mir mit.

Hast du eigentlich schon eine neue WG gefunden?  
Momentan lebe ich mit meinem 16-jährigen Sohn zusammen in einer ganz normalen Wohnung und so lange er noch zur Schule geht, werde ich das wohl auch erstmal beibehalten. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass eine WG - auf Dauer gesehen - den Idealzustand fürs Leben darstellt.

Zusammen oder alleine? Die meisten Dinge kann man entweder mit anderen oder nur mit sich selbst tun. Manchmal ist Einsamkeit eine Notlösung, ein andermal wünscht man sich nichts sehnlicher als ein bisschen Ruhe vor anderen Menschen. Und oft ist es im Voraus unmöglich zu entscheiden, welche der beiden Optionen die bessere ist. Deshalb haben wir dem der Frage „Zusammen oder Alleine“ heute ein Gegensatz-Magazin gewidmet. Es geht ums Zusammenwohnen und Sex mit sich selbst. Um das Verreisen ohne Begleitung und das Sporteln ohne Freunde. Ums Herdenschreiben und Orte, an denen Gemeinschaft künstlich hergestellt werden muss.

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