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Die Liebe wankt, wenn der Magen knurrt

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Hildesheim, irgendwann nach der Jahrtausendwende. Ich war schon eingelebt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks, und ich war verliebt. Alles glänzte - Kerzen, Ideen und Augen. Aber ein oller Rosenstock nützt bei der Romantik nicht viel, wenn an jeder Ecke bekannte Gesichter auftauchen und man nirgends seine Ruhe hat. Überall, wo man den Mann und mich sah, stellte man dieselbe Frage: „Seid ihr jetzt ein Paar?“
Eine ungehörige Frage, wenn man sich noch im ersten Taumel des Kennenlernens befindet, wenn man noch selbst herausfinden muss, wohin das alles führen soll. Dann ist diese Frage wie das erste Gewicht an den Füßen, wenn man sich gerade darauf vorbereitet, Hand in Hand von einem Boot in den Ozean zu springen. Wenn sogar zu Hause Mitbewohner große fragende Augen machen, sehnt man sich mehr denn je nach der Tarnkappe, um einfach mal unbehelligt Hand in Hand herumzuspazieren, ohne sich beobachtet zu fühlen. Es war Winter, und von Rosen weit und breit nichts zu sehen. 

Da der Mann und ich schlecht alle anderen verschwinden lassen konnten, was auch eher unheimlich gewesen wäre, blieb uns nur, selbst die Flucht zu ergreifen. Kurzentschlossen packten der taufrische Mann und ich unsere Taschen. Es war uns egal, wohin es gehen würde. Wir brauchten keine einsame Insel, wir brauchten nur einen Fleck, wo uns keiner kannte. Hätten wir mehr Geld gehabt, wären wir ganz sicher zum Flughafen gefahren und hätten das erstbeste Angebot genommen: Zwei Mal über alle Berge. Aber unser Geld war knapp, die Vorstellungskraft dafür um so größer. So landeten der Mann und ich mit unserem Studenten-Budget per Mitfahrgelegenheit in Hamburg.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Sobald unsere Füße den Boden berührten, waren wir am Ende der Welt. Viele andere waren zwar zeitgleich dort, aber wir kannten niemanden, und niemand kannte uns. Keine Handys, keine Telefonate, keine Fragen - höchstens Postkarten aus dem Nirgendwo, das war der Plan.
Der Mann hatte vor der Abfahrt herumgehorcht, das Internet befragt, vielleicht auch Glaskugeln, so gut kannten wir uns noch nicht. Er hatte telefoniert, auf meine Schubser immer geheimnisvoll den Finger an die Lippen gelegt und nervtötend ausdauernd geschwiegen. Nun standen wir in Hamburg an einer Tankstelle (die sehr fremdländisch aussah, wie wir uns gegenseitig versicherten), atmeten ein und aus, Winterluft war es, wir stießen Atemwolken aus, die in der Kälte plötzlich glitzerten. Der Mann nahm meine Hand und zog mich über die Straße.  

Kurze Zeit später standen wir zusammen vor der Fensterfront im vierzehnten Stock eines Hotels und die Stadt breitete sich zu unseren Füßen aus. Alles war klein und weit weg, Hildesheim, die Menschen, die Häuser, die Probleme. Nur der Mann, der stand ganz dicht neben mir. Wir lehnten uns nach vorn, bis die Stirnen die Scheibe berührten, hauchten gegen das Glas, und obwohl wir uns nicht berührten, war der andere ganz nah.  

Unsere selbstgebastelten Tarnkappen gingen das ganze Wochenende über nicht kaputt. Wir gingen essen, wir liefen Schlittschuh, wir tanzten rührend falsch zur Geigenmusik über den Platz. Wir warteten, bis die Dunkelheit zwischen die Häuser sank und nach und nach die Lichter angingen. Nirgends war es uns zu kalt oder zu eng.  

Viel zu schnell war Sonntag. Aber da uns gerade die ganze Welt allein gehörte, waren wir ungewohnt keck. Wir gingen zur Rezeption und nach einer längeren Plauderei und vielen Augenaufschlägen verlängerte man uns das Zimmer für eine Nacht zum Sonderpreis.  

Luft und Liebe, das sagt sich so leicht. Aber die junge Liebe gerät dann schon mal ins Wanken, wenn die Mägen so laut knurren, dass man das Herzklopfen nicht mehr hört. Die Gegend um das Hotel war nicht sehr belebt. Und wir hatten so viel von der Stadt gesehen, dass wir den letzten Abend nun gerne nur uns sehen wollten. Wir wollten einfach ein Picknick machen vor dem Fenster, die Lichter der Stadt zu unseren Füßen. Eine Pizza und Wein, das würde uns schon reichen, da waren wir uns einig. Die Hotelrestaurantpreise überstiegen allerdings unsere Möglichkeiten.  

An der Tankstelle gegenüber holten wir uns eine Flasche Wein. Jetzt war das Budget wirklich fast aufgebraucht. Selbst die billigste Pizza im Hotel war nicht mehr drin. Ich weiß nicht, woran es lag - an mir, an dem Freund, an unseren ineinander verschränkten Händen. Die Rezeptionistin flüsterte leise mit uns. Sie bat einen Kellner aus dem Nobelrestaurant, unseren billigen Wein für uns zu öffnen. Und sie rief für uns einen externen Pizzaservice an, der nicht schlecht staunte, dass er tatsächlich ins Nobelhotel in den vierzehnten Stock liefern sollte.  

Als ich die Tür hinter dem Pizzaboten schloss, und sich der Pizzaduft an mir vorbei ins Hotelzimmer schlich, drehte ich mich um und sah von dem Mann nur die Silhouette vor dem Fenster. Die Stadt war ein vager Schimmer, eine charmante Hintergrundbeleuchtung für unseren letzten Abend allein. Die Gläser klirrten. Nichts in der Welt wäre besser gewesen. Keine einsame Insel, kein Champagner war nötig. Der Mann und ich und die Stadt zu unseren Füßen - das war wirklich genug.   



Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

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