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Hey Boss, ich brauch mehr Schneeflocken!

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Oskar hat ein Pokerface aufgesetzt. Sein Nasenflügel zittert leicht. Ich sehe, wie sich seine Hände ineinander verkrampfen. Wir blicken uns an, keiner blinzelt, mein Lid zuckt. „Asche“, sage ich.
„Kies“, kontert Oskar.
„Flocken.“
„Schotter.“
„Ocken.“
„Tacken.“
„Penunzen.“
„Mäuse.“
„Flöhe.“
„Zaster.“
„Knete.“
„Kohle“, sagt Oskar.

Ich kann ihm ansehen, dass die Luft für ihn langsam dünn wird.

„Kröten“, sage ich.
„Piepen.“
„Mücken.“
„Moos.“
„Pieseratzen.“
„Das ist doch kein Wort!“, beschwert sich Oskar.
„Klar ist das ein Wort“, widerspreche ich, „das sagt Pippi Langstrumpf! Und bei Bibi Blocksberg kommt es auch vor.“

Oskar hat keine Chance. Meine Hörspielkassetten- und Kinderbuchsammlung ist umfangreich - von den Funk-Füchsen bis hin zu Jan Tenner oder dem kleinen Wassermann. Diese Geschichten sind voll von altmodischen Wörtern und Wendungen. Bei unseren Wettstreiten gelten grundsätzlich auch fiktive Figuren als Referenz. Es sind die realen Personen, die wir mit Skepsis betrachten, die lügen einem meist nur die Hucke voll.

„Okay, du hast gewonnen“, gibt Oskar auf.  

Ich weiß nicht mehr, wie wir bei dem Spiel gelandet sind, wer mehr Wörter für Geld weiß. Mir scheint, dass immer, wenn unser Gespräch stockt oder in eine zu ernste Richtung abdriftet, wir in irgendwelche Spielereien verfallen und plötzlich ist es Nacht und wir betrunken und keiner hat es so richtig mitgekriegt.
Eigentlich habe ich Oskar erzählt, dass am nächsten Tag auf meine Bitte hin der Stundenlohn mit meinem Saisonjob-Boss neu verhandelt wird. Keine Ahnung, wie ich das am besten anstelle. Nie bin ich sicher, was für eine Bezahlung angemessen ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Früher habe ich innerhalb des Studiums geforderte Praktika ohne (oder für sehr wenig) Geld gemacht - und dabei festgestellt, dass sich das negativ auf die Motivation auswirkte. Zumindest, wenn ich das Gefühl hatte, nichts zu lernen, sondern nur eine billige oder gar Gratis-Arbeitskraft zu sein.
Kellnerjobs gingen ab 5 Euro aufwärts los. Manchmal habe ich nicht in Euro, sondern in Stunden gerechnet: Ein Mal Pizza-Taxi = 2 Stunden kellnern. So bekommt alles neue Wertigkeiten. Aber das waren studentische Nebenjobs, der Lohn netto. Mittlerweile habe ich ein abgeschlossenes Studium mit Diplom und in unterschiedlichen Bereichen einiges an Erfahrung und Referenzen vorzuweisen. Muss das nicht honoriert werden? Aber was genau ist meine Arbeitskraft jetzt wert?  

Diesen Job als Aushilfe in der Werbeabteilung mache ich seit fünf Jahren für jeweils zwei Monate. Mit der Zeit bin ich natürlich schneller und kompetenter geworden. Für meine festangestellten Kollegen klingt mein Stundenlohn erstmal ganz gut. Bis ich zu bedenken gebe, dass ich davon noch Steuern und Sozialabgaben abziehen muss, Krankenkasse und Versicherungen, die Kosten für mein Arbeitszimmer etc. Dann bleibt nicht mehr so viel übrig.  

Oskar kippt den Rest aus seinem Glas hinunter.
„Überlege dir, was du verdienen willst. Sag deinem Boss, wenn er das nicht zahlt, bist du weg.“
„Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren. Und ich kann doch nicht von heute auf morgen 50 Prozent mehr verlangen.“
„Du musst feilschen. Setz einfach höher an, warte auf sein Gegenangebot, und ihr trefft euch irgendwo dazwischen.“  

Oskar hat gut reden. Der passendste Beruf für ihn wäre Händler auf einem Basar. Oder Marktschreier. Wenn man mit Oskar auf den Flohmarkt geht, kommt man immer vollbeladen zurück, obwohl man nichts kaufen wollte. Er drückt jeden Preis so weit, dass man kaum anders kann. Ich bin das genaue Gegenteil. Ich habe gern, dass ein Preis auf einem Ding steht, und ich überlege mir dann, ob es mir das wert ist oder nicht. Auf den Markt kann ich nur an Tagen gehen, an denen ich sehr standfest bin. Sonst passiert es mir, dass ich mit zwanzig Mangos und fünf Kilo Gurken nach Hause komme.  

„Zehn Kröten“, sagt Oskar plötzlich.
„Spinnst du? Das ist viel zu viel!“
„Zehn Kröten gebe ich dir, wenn du beim Verhandlungsgespräch mit deinem Chef ‚Flocken’ statt ‚Euro’ sagst.“

Ich starre Oskar an. Oskar starrt zurück. Ich bin die erste, die den Blick senkt. Schnell schenke ich ihm noch einen Wodka ein und hoffe, dass er morgen alles vergessen hat.  

Bei meinem Boss im Büro ist es trüb. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Wir plaudern freundlich über dies und jenes, aber ich habe das Gefühl, als sinke der Sauerstoffgehalt der Luft rapide ab. Schließlich erlöst mich der Boss. „Also, was haben Sie sich denn an Stundenlohn vorgestellt?“, fragt er. Ich denke noch einmal über Oskars Worte nach. Jedes zweite Wort in meinem Kopf ist „Flocken“.

„Ich will ehrlich gesagt nicht feilschen. Mir wäre am liebsten, Sie überlegen sich, was Sie mir anbieten wollen. So eine Art „Best Offer“. Und ich entscheide, ob das für mich akzeptabel ist, oder nicht.“ Er blättert in seinen Unterlagen, denkt nach. Wahrscheinlich lässt er sich die letzten Jahre durch den Kopf gehen, so wie ich das gestern gemacht habe. Jedes Jahr halte ich mir die Stoßzeit für den Laden großzügig frei. Jeden Herbst melde ich mich und frage, ab wann er mich braucht. Die Kollegen und ich arbeiten gut zusammen. Ich rechne monatlich ab und werde pünktlich bezahlt. Das ist leider nicht selbstverständlich, bei anderen Auftraggebern muss ich dem Geld oft Monate hinterherrennen. Kurz: Beide Seiten profitieren von dem Arbeitsverhältnis.  

Mein Boss scheint zu demselben Schluss zu kommen. Und er kennt mich besser, als ich dachte, oder weiß zumindest von meinem Faible für Gauner- und Detektiv-Filme. Denn jetzt nimmt er einen Zettel, schreibt eine Zahl darauf, faltet ihn zusammen und schiebt ihn mir mit Pokerface über den Tisch. Nicht ohne dabei zu zwinkern. Ich setze ebenfalls eine stählerne Miene auf und schaue mir den Zettel an. Es ist ein gutes Angebot, 16 Prozent mehr als bisher. „Einverstanden“, sage ich nach einer angemessenen Pause. Als wir uns die Hände reichen, fällt mein Blick aus dem Fenster. „Schneeflocken“, rufe ich. Sicher lässt Oskar das nicht gelten. Trotzdem fühlt es sich an, als hätte ich gewonnen.

Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

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