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Wie es wirklich ist, als europäische Frau in einem muslimischen Land zu leben

Fotos: Kees Kortmulder/Unsplash; inkje/photocase.de; Collage: jetzt

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Ich lebe seit drei Jahren in Marrakesch, Marokko und bin unglaublich glücklich hier. Ich arbeite hier, habe Freunde und bin verheiratet. Marokko ist zu meinem Zuhause geworden. Dass ich mich hier so wohl fühle, kann nicht jeder nachvollziehen. Auch wenn es gar nicht böse gemeint ist, scheint es so, als hätten die meisten bereits ein klares Bild davon, wie es ist, als europäische Frau in einem muslimischen Land zu leben: ziemlich schlimm. Weil jegliche Emanzipation und Selbstbestimmung weit weg sind.

Die Leuten dachten, dass ich von nun an nur noch zu Hause sitzen und nach ein paar Wochen in Marokko zu einer verschüchterten Hausfrau mit Kopftuch mutieren würde. Auch dass der Umzug nach Marokko gleichbedeutend mit einem Aus für meine Karriere sei, davon gingen die meisten aus. Wie ich alleine Auto fahre und abends in moderner Kleidung mit meinen Mädels weggehe, das konnte sich erst recht niemand vorstellen.  Die meisten dieser Vorstellungen sind aber falsch. Und ich möchte sie hier mal aus der Welt räumen. 

Dazu muss ich natürlich vorweg nehmen: Marokko ist eines der modernsten und liberalsten muslimischen Länder. Und Marrakesch ist auch wegen der vielen Touristen sogar noch weltoffener als der Rest des Landes. Pools, Clubs und Bars – Marrakesch ist die Partystadt Marokkos und stolz darauf. Ich spreche also von meinen Erfahrungen in einem muslimischen, aber auch sehr offenen Land. 

Vorurteil eins: Als Christ kann man in einem muslimischen Land seine Religion nicht ausleben

Trifft zumindest auf Marokko gar nicht zu. Es gibt in Marrakesch zwei Kirchen. Ich bin zwar selbst keine Kirchengängerin, aber immerhin: ich könnte, wenn ich wollte. An Weihnachten gibt es tolle Angebote in den lokalen Hotels und Restaurants, ein festliches Dinner oder ein Weihnachtsbrunch ist kein Problem. Das liegt wahrscheinlich auch am französischen Einfluss der Kolonialzeit, der in Marokko immer noch groß ist. Und daran, dass man mit Europäern gut Geld machen kann. In jedem Fall haben die Marokkaner Spaß daran, an christlichen Feiertagen mitzufeiern.

Vorurteil zwei: Der Islam ist allgegenwärtig und bestimmt den Alltag

In Marokko wurden noch nie irgendwelche Ansprüche an mich gestellt, mich islam-konform zu verhalten. Weder was meine Kleidung, noch was den Konsum von Alkohol oder mein Essverhalten angeht.

Trotzdem richtet sich mein persönlicher Tagesablauf nach dem Islam. Wenn ich zur Gebetszeit ein Taxi bestelle, muss ich länger warten. Der Taxifahrer betet erstmal in Ruhe. Am Freitag etwas in der Altstadt kaufen? Unmöglich! Heute sind alle in der Moschee. Und im Ramadan versuche ich, grimmige Blicke zu vermeiden, indem ich nicht mitten auf der Straße ein genüsslich ein Sandwich mampfe. Während des Fastenmonats wird Marrakesch zu einer Geisterstadt, die erst nachts wieder zum Leben erwacht. Das ist natürlich eine Umstellung, aber im Prinzip auch nichts anderes als geschlossene Läden an deutschen Sonntagen. 

Vorurteil drei: Man muss sich als Frau bedeckt kleiden

 

Natürlich tragen hier mehr Frauen Kopftuch und auch moderne Fashionistas kleiden sich weniger figurbetont. Dadurch würde ich als Einzige im knallroten Minikleid direkt viel mehr auffallen als in Deutschland. Ich denke morgens beim Anziehen viel mehr darüber nach, wo ich heute überall hin will: An Pools und in Clubs sieht man aber mitunter sogar mehr nackte Haut als in Deutschland. Wenn ich aber in Ruhe einkaufen möchte, ziehe ich mich definitiv bedeckter als in Deutschland an.

 

Ich richte mich trotzdem nicht nach irgendwelchen Regeln wie Schultern oder Knie bedecken, sondern achte nur darauf, dass der Ausschnitt nicht zu tief ist und der Hintern nicht zu sehr betont wird – ungefähr so, wie bei einem Vorstellungsgespräch. 

 

Vorurteil vier: Frauen werden nicht so respektiert wie Männer

 

Ich werde als arbeitende Frau in Marokko genauso respektiert wie meine männlichen Kollegen. Nur ein einziges Mal war eine Situation ein wenig schwierig für mich. Für ein größeres Event, das mein Mann und ich organisierten, stellten wir für mehrere Wochen insgesamt acht Fahrer ein – allesamt männlich. Ein Fahrer gab mir ständig Widerworte und stellte meine Ansagen in Frage. Aber das kann einem als junge Frau in Deutschland genauso passieren. 

 

Generell sind die Marokkaner sich ihren Geschlechtern jedoch mehr bewusst. Was vor allem auch daran liegt, dass es eben immer noch viele Menschen gibt, die ihre Religion sehr streng praktizieren und den Kontakt zum anderen Geschlecht möglichst vermeiden. Das heißt zum Beispiel, dass jeder Mann, auf den ich treffe, darauf wartet, dass ich die Hand zur Begrüßung ausstrecke und dann erst auf den Handschlag eingeht. Sozusagen in vorauseilender Rücksichtnahme: Könnte ja sein, dass ich den Kontakt zu Männern vermeiden möchte. 

 

Vorurteil fünf: In einem muslimischen Land ist es nicht sicher

 

Zur Erinnerung: Ich spreche die ganze Zeit von Marrakesch in Marokko. Wir sind weit entfernt von jedem Kriegsgebiet. Abgesehen von der Sorge vor ein paar Taschendieben, wie sie in jeder Großstadt herumlaufen, fühle ich mich hier sogar sicherer als in Deutschland.

 

Hier nachts über die Straße zu laufen fühlt sich vollkommen anders an. Wie in den meisten südlichen Ländern gehen die Leute viel später schlafen. Das Horrorszenario, alleine eine einsame Straße lang laufen zu müssen, gibt es in Marrakesch quasi nicht. Außerdem sind Marokkaner viel neugieriger als der Durchschnittsdeutsche. Wenn einem tatsächlich mal etwas passiert, kann man auf die Hilfe von sämtlichen Taxifahrern, Ladenbesitzern und Passanten setzten. Als einer Freundin von mir einmal die Tasche geklaut wurde, wurden wir direkt von mindestens zehn Leuten umringt, die alle ihr Beileid ausdrückten und uns Tipps gaben, wie man das Handy orten könnte oder wo die nächstgelegene Polizeistation sei. 

 

Trotzdem hat natürlich auch diese Neugierde ihre Nachteile. Denn Fakt ist, dass man auf der Straße viel öfter angestarrt und angesprochen wird – vor allem, wenn man auch noch optisch aufgrund der Haut- oder Haarfarbe auffällt. Das sorgt vor allem am Anfang für ein ungutes Gefühl. Und manchmal vermisse ich es auch heute noch, dass ich nicht einfach wie in Deutschland in der Masse verschwinde.

 

Vorurteil sechs: Man wird ständig angemacht

 

Jetzt kommen wir bei dem Vorurteil an, dass ich leider bestätigen muss. Das einzige, was mich an meinem Leben in Marokko wirklich nervt, ist auf der Straße von Männern angemacht zu werden. Während die deutschen Männer schüchtern die Augen abwenden, wenn unsere Blicke sich kreuzen, verstehen die meisten Marokkaner einen zufälligen Blickkontakt als Einladung. Selbst wenn ich wegsehe, quatschen mich oft Männer mit Sprüchen wie „Hey Sexy“ an. Darunter leiden marokkanische Frauen und Europäerinnen gleichermaßen.

 

Allerdings scheint sich auch ein großer Teil der Marokkaner für diese übergriffigen Männer zu schämen. Als ich einmal auf einen Kommentar zu meinem Hintern laut auf Arabisch „Schande“ antwortete, jubelten mir eine Reihe von traditionellen Frauen mit Kopftuch zu. Sooft man jedoch auf der Straße angesprochen wird, so sehr hat man seine Ruhe in Bars, Restaurants und Clubs. Der klassische deutsche Grapscher an den Hintern auf der Tanzfläche ist mir hier noch nie passiert. So sehr die Bemerkungen also auch nerven – immerhin bleibt es bei Sprüchen statt tatsächlichem Körperkontakt.

 

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