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„Gerade hauen viele Jugendliche von zu Hause ab“

Ronja bei der Pressekonferenz von „Karuna“ und „Save the Children“, bei der die neue „Youth Force“ vorgestellt wurde. Interessierte konnten auch online zuschauen.
Foto: Lutz Müller-Bohlen

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Wie soll man Hygiene- und Abstandsregeln einhalten, wie die Aufforderung „bleib zu Hause“ befolgen, wenn man auf der Straße lebt? Wo Hilfe finden, wenn Tafeln und Notschlafstellen geschlossen haben und weniger Menschen draußen unterwegs sind, die etwas spenden? Die Berliner Sozialgenossenschaft „Karuna“ kümmert sich auch in der Corona-Krise um obdachlose Menschen. Gemeinsam mit der Kinderrechtsorganisation „Save the Children“ hat Karuna im April die „Youth Force“ gegründet, ein Hilfsangebot speziell für Straßenkinder und gefährdete Jugendliche, das nach dem „Peer-Prinzip“ funktioniert: 15 junge Menschen, die selbst Straßenerfahrung haben, gehen mit den Sozialarbeiter*innen auf die Straße, knüpfen Kontakte, verteilen Lebensmittel und Hygieneprodukte, klären über das Virus auf, bieten Hilfe an und motivieren, selbst aktiv zu werden. 

Ronja Wenzel ist 20 Jahre alt und Mitglied der „Youth Force“. Für das Videotelefonat sitzt sie mit Mütze und Kopfhörern draußen, im Hintergrund sind Bäume zu sehen und spielende Kinder zu hören. Was ihre eigene Geschichte angeht, ist sie zurückhaltend: Sie habe als Jugendliche selbst auf der Straße gelebt, sagt Ronja, und seitdem „mal halb, mal nicht“. Zur Zeit hat sie eine Wohnung und ist seit einigen Wochen bei Karuna im Rahmen des „Solidarischen Grundeinkommens“ angestellt, einem Pilotprojekt, das eine Perspektive jenseits von Hartz IV bietet. 

jetzt: Ronja, wie bist du zur Youth Force gekommen?

Ronja Wenzel: Ich bin von der Hilfenehmerin zur Hilfegeberin geworden. Ich war als Jugendliche auf der Straße, danach in der Jugendhilfe und in letzter Zeit wurde ich vom Sozialamt in einem Hotel untergebracht. Als ich Wäsche waschen musste, hatten die üblichen Anlaufstelle wegen der Corona-Krise schon geschlossen und ich habe die Corona-Hotline von Karuna angerufen, weil ich gehört hatte, dass es dort noch Hilfe gibt. Und bei der Hotline bin ich dann an Lutz geraten, wir haben uns unterhalten und direkt gut verstanden. So wurde der Kontakt relativ schnell auf die Beine gestellt – und jetzt freue mich, bei der Youth Force dabei sein zu können.

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Ein Teil der vorfreudigen „Youth Force“ (mit Ronja ganz links) nach der Pressekonferenz.

Foto: Lutz Müller-Bohlen

Was genau ist eure Aufgabe als Youth Force?

Wir geben den Sozialarbeiter*innen Hilfestellung. Viele Leute von der Straße sind ihnen gegenüber erstmal skeptisch und wir versuchen, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Die Menschen sollen merken: „Da ist jemand, der mich versteht, der vielleicht schon dasselbe durchgemacht hat wie ich.“ Wir wollen ein Bindeglied sein zwischen denen, die Hilfe brauchen, und denen, die wissen, wie man professionell Hilfe leistet.

Ihr seid also vor allem für den ersten Kontakt da?

Nein, die Peer-Arbeit besteht darin, beim Prozess der Hilfe insgesamt anwesend und immer ansprechbar zu sein. Wir können die Jugendlichen zum Beispiel auch ins Jugendamt begleiten.

Was hast du in deiner Zeit auf der Straße gelernt, das dir jetzt bei deiner Arbeit hilft? 

Ich glaube, jeder Mensch, der eine gewisse Zeit auf der Straße gelebt hat, ist ein*e Überlebenskünstler*in und entwickelt ganz eigene Strategien, um durchzukommen. Als Youth Force können wir ein Vorbild sein, wie man von da aus Schritte zurück ins Leben gehen kann. Wir können sagen: „Hey, ich saß genauso wie du mit 13, 14 auf der Straße, ich hab auch im Winter draußen geschlafen. Aber guck, bei mir läuft es jetzt besser, das muss also kein Für-immer-Zustand sein.“ Wir versuchen einfach, die Leute da abzuholen, wo sie sind, und genau hinzuhören, was sie gerade brauchen. 

„Menschen auf der Straße haben oft wenig Gefühl dafür, Abstand zueinander zu halten“

Und was brauchen sie?

Wonach vor allem junge Mädels immer fragen: Hygieneartikel und Tampons. Und generell: Wasser. Das ist gerade in den Sommermonaten mega wichtig, du gehst sonst einfach ein. Und natürlich Isomatte und Schlafsack, damit du auf der Straße deinen eigenen Space hast. Das sind die grundlegenden Sachen. Und dann geht Obdachlosigkeit oft mit psychischen Erkrankungen einher, es ist also wichtig, dass man auch therapeutischen Rückhalt anbietet. Darum arbeitet bei Karuna auch eine Traumatherapeutin mit.

Wie sieht eure Arbeit gerade konkret aus?

Wir verteilen mit Lastenfahrrädern Suppen, Hygieneartikel, Wasser, die wichtigsten Dinge also. Wir geben Gutscheine für einen Supermarkt aus, ein anderer Markt hat Tüten mit Lebensmitteln gespendet. Und wir werden demnächst Telefone verteilen, die von dem nachhaltigen Unternehmen „reBuy“ gesponsert wurden. Dabei geht es darum, einen bleibenden Kontakt zu den Jugendlichen herzustellen und ein kleines Netzwerk bilden zu können. Außerdem gehen wir in Zweierteams auf die Straße und nehmen die Leute über eine interne App in unser System auf, damit wir sie wiederfinden können: wer, wann, wo, wie alt. In der App haben wir auch die Kategorie „Verdacht auf Corona“, damit wir die entsprechenden Stellen verständigen können, wenn jemand krank ist. Bisher mussten wir das aber noch nicht machen.

Klärt ihr auch speziell über die Pandemie auf?

Wir versuchen, möglichst großflächig Masken zu verteilen, in den Lebensmittel-Tüten sind immer welche mit drin. Menschen auf der Straße haben oft wenig Gefühl dafür, Abstand zueinander zu halten. Das ist verständlich, sie hängen nunmal den ganzen Tag zusammen rum, aber dadurch ist natürlich die Ansteckungsgefahr höher. Und viele denken sich auch: „Ich habe ja sowieso nicht zu verlieren.“ Wir versuchen, sie dafür zu sensibilisieren, dass sie auch an die anderen denken müssen – und auch an uns.

„Sexueller Missbrauch ist ein großes Thema: Wenn einem jetzt eine Couch angeboten wird, dann geht man halt mit“

Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen die jungen Menschen auf der Straße durch die Pandemie?

Wenn die meisten Menschen immer daheim sind, gibt es dort auch öfter Probleme. Darum hauen gerade viele Jugendliche von zu Hause ab und wissen dann nicht, wohin. Oder jemand hat nur noch eine Oma, die über 80 und vorerkrankt ist, die kann er jetzt natürlich nicht mehr besuchen und ist deswegen den ganzen Tag auf der Straße. Insgesamt wurden die Hilfsmaßnahmen wegen der Pandemie runtergeschraubt, es gibt also weniger Anlaufstellen für die Jugendlichen. Auch Notschlafstellen sind geschlossen. Dadurch ist sexueller Missbrauch ein sehr großes Thema: Wenn einem jetzt eine Couch angeboten wird, dann geht man halt mit und denkt nicht wirklich darüber nach. Wir versuchen, darüber aufzuklären, unter anderem mit der Kampagne „Mein Schlafsack gehört mir“.

Und man kann die Hotline anrufen, wenn man ein Problem hat, so wie du es ja auch gemacht hast. Melden sich da im Moment viele?

Definitiv. Das Telefon klingelt wirklich oft.

Mit welchen Sorgen rufen die Menschen an?

Ich sitze nicht selbst am Telefon, das machen zwei Kolleg*innen. Aber von denen weiß ich, dass alles Mögliche dabei ist: Von „mein Schnaps ist leer“, über „ich brauche einen Schlafsack“ bis zu „meinen Freunden geht es nicht gut, die haben irgendwelche Drogen genommen“.

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Bei dieser Hotline können Obdachlose anrufen, die Hilfe brauchen. Für Ronja entstand darüber auch der Kontakt zur „Youth Force“.

Foto: Ronja Wenzel

Welche Erfahrungen hast du bei deiner Arbeit bisher gemacht? Wird die Hilfe gut angenommen?

Es ist sehr viel Skepsis auf der Straße, die Menschen wundern sich erstmal – aber ist ja klar, ich würde jetzt auch nicht davon ausgehen, dass mir irgendjemand einfach was schenkt. Manche wollen gar nicht mit dir sprechen, manche sind aber auch super dankbar, es gibt wirklich einen riesigen Fächer an Reaktionen. 

Gab es in deinen ersten Tagen im Einsatz einen Moment, der dir in Erinnerung bleiben wird?

Ja. An meinem ersten Tag haben wir einen Mann geweckt, und ich dachte: „Oh nein, nicht, dass er jetzt aufwacht und total wütend ist.“ Klar will man helfen und wenn man einfach vorbeigeht, kann man das nicht – aber man darf dabei nicht vergessen, seine Privatsphäre zu achten. Er war dann aber sehr freundlich und dankbar, wir haben uns richtig gut unterhalten und ihm noch einen Schlafsack kommen lassen. Das wird mir positiv in Erinnerung bleiben.

„Das ist für uns alle eine Scheißzeit, egal, ob wir ein Zuhause haben oder nicht“

Die Youth Force steht noch ganz am Anfang ihrer Arbeit. Wie geht es in Zukunft weiter? 

Wir wollen natürlich weiter die Grundversorgung sicherstellen. Und wir arbeiten gerade an einem Konzept, das „radikal demokratisch“ heißen soll. Da wollen wir Probleme angehen, die junge Menschen im Hilfsprozess immer wieder haben, zum Beispiel, weil das Jugendamt nicht mitspielt oder bestimmte bürokratische Regeln dafür sorgen, dass jemand nicht weiterkommt. Wir wollen die Politik auf diese Probleme aufmerksam machen, damit sich was ändert. Ansonsten kann natürlich niemand vorhersagen, was wir alles machen werden, wenn die Krise vorbei ist, weil wir ja nicht wissen, wie lange sie noch andauert. Es heißt ja auch, dass es im Herbst noch mal schlimmer werden soll. Wir drücken die Daumen, dass es nicht so kommt – aber wenn doch, sind wir bereit.

Und was kann jede*r Einzelne von uns tun, um Menschen auf der Straße jetzt zu unterstützen? 

Helft, wo ihr könnt. Das sage ich jeder und jedem, auch den Obdachlosen. Habt Verständnis füreinander, achtet aufeinander, guckt, ob ihr was übrig habt – in Berlin gibt es zum Beispiel mittlerweile sehr viele Gabenzäune. Und seid nett zueinander. Das ist für uns alle eine Scheißzeit, egal, ob wir ein Zuhause haben oder nicht, ob wir arm, reich, dick oder dünn sind, und wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen. Wir können jetzt alle dasitzen und schmollen oder Angst haben. Oder wir können sagen: „Wir halten Abstand, aber wir halten zusammen.“

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