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Zu gesunde Ernährung ist eine Krankheit

Foto: complize / photocase.de

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Irgendwann lag Josephine auf dem Boden und hörte nicht mehr auf, zu weinen. Ein psychischer Zusammenbruch, vor allen Mitschülern. Irre peinlich.

Josephine ist 17 Jahre alt. Sie besucht die 11. Klasse einer Berufsfachschule in Hessen, heißt eigentlich anders und zu ihren Hobbies gehören tanzen, Musik hören und Sport. Im Sommer dann: ein gemeinsamer Ausflug mit der Klasse. Man wollte ausgehen, zusammen das Schuljahr in einem Restaurant ausklingen lassen. Doch das war zu viel für Josephine. Die Fülle der ungesunden Angebote auf der Karte, all die Zutaten, die sie nicht kannte, von denen sie nicht wusste, wie sie zubereitet waren, dazu der Druck ihrer Klassenkameraden – all das überforderte sie. Sie konnte nicht mehr.

Barbara Dohmen, Oecotrophologin und Ernährungstherapeutin mit Schwerpunkt Essstörungen, diagnostizierte eine Orthorexia Nervosa – ein krankhaft gesundes Essverhalten. Die Nahrungsaufnahme wird dabei nicht mehr mit Appetit oder Befriedigung von Hungergefühlen verbunden, sondern vor allem mit Schuld und Angst. Strenge Regeln, Rituale und Verbote bestimmen die Mahlzeiten, darüber steht eine hypochondrische Furcht vor ungesunden Lebensmitteln. Etwa ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung, schätzt Barbara Dohmen, sind potentiell gefährdet. Mit einer hohen Dunkelziffer.

Ursprünglich hatte Josephine mit einer Magersucht zu kämpfen. Irgendwann wog sie nur noch 45 Kilo. Daher riet ihr ihre Therapeutin, sich bei Frau Dohmen zu melden. Gemeinsam schafften sie es, Josephines Gewicht in den Griff zu bekommen. Heute geht es für Josephine darum, ein „normales“ oder vielmehr unbeschwertes Essverhalten zu entwickeln. Aber was heißt das inzwischen schon: Normal? Gesund?

Versucht man, Josephine abends zu erreichen, kann es passieren, dass sie darum bittet, das Gespräch auf den nächsten Nachmittag zu verschieben. Am Abend habe sie immer Stress. Kalorien nachholen und die Mahlzeiten für den nächsten Tag planen.

Die Diagnose einer Orthorexie ist schwierig. Im Gegensatz zu Bulimie oder Magersucht gibt es zunächst keine negativen körperlichen Folgen. Im schlimmsten Fall werden negative Symptome von den Betroffenen zwar erkannt, jedoch falsch interpretiert, was zu einer Intensivierung des gestörten Essverhaltens führen kann. Müdigkeit, schlechte Haut, fehlender Antrieb, alles wird auf eine falsche Nährstoffzusammensetzung geschoben.

Was die Mehrheit als normale Ernährung bezeichnet, empfinden Orthorektiker als gesellschaftlich organisierten Vergiftungsversuch.

Offiziell ist die Orthorexie noch nicht als Krankheit anerkannt. Es gibt keinen Behandlungsleitfaden, die Krankenkassen weigern sich, Kosten zu übernehmen. Dr. Martin Greetfeld, Oberarzt der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, spricht von einem „graduellen Phänomen eines gesellschaftlichen Trends, der psychosoziales Leiden verursachen kann und so Krankheitsform bekommt.“ Soll heißen: Orthorexie ist kein körperliches Leiden. Sondern ein psychisches.

Greetfeld wählt seine Worte vorsichtig, denn sie berühren ein delikates Thema. Eines, das im Netz bereits hämisch diskutiert wird. „Sie ernähren sich gerne gesund? Kaufen dann und wann im Bioladen ein? Studieren das eine oder andere Zutatenetikett? Ja? Dann könnte es durchaus sein – auch wenn Sie sicher anderer Meinung sind – dass Sie psychisch krank sind.“ So heißt es zum Beispiel beim zentrum-der-gesundheit.de, wo neben diversen Artikeln zum Thema Gesundheit auch für verschiedene Nahrungsergänzungsmittel, etwa Pulver aus Algen und Korallen geworben wird.

Zunächst klingt die Kritik durchaus berechtigt. Auch Josephine spricht davon, ihrem Körper schlicht „die optimale Nährstoffbilanz“ zukommen lassen zu wollen. Was kann daran falsch sein, sich gesund zu ernähren?

Für sich genommen zunächst tatsächlich nichts. Das Problem der Patienten liegt vor allem im sozialen Leiden. „Das, was die Mehrheit der Masse als normale Ernährung bezeichnet, empfinden viele Menschen mit orthorektischem Verhalten bereits als gesellschaftlich organisierten Vergiftungsversuch“, erklärt Martin Greetfeld. Orthorektiker gehen nicht essen, auch nicht bei Freunden. Sie kochen ausschließlich selbst oder gar nicht, grübeln stunden-, mitunter tagelang über die nächsten Mahlzeiten.

Anfangs hat Josephine in ihrem Umfeld Erfolg mit ihrer neuen Passion. Mutter und Lehrer loben sie, Mitschüler holen sich Ernährungstipps bei ihr. Dann beginnt die Isolation. Irgendwann verstehen ihre Freundinnen nicht mehr, warum sie keinen Burger will, nicht mal mehr einen Salat, warum sie nur noch für sich selbst isst, nicht mehr mit ihnen kocht.

Josephine beginnt, viel Sport zu treiben, findet im Internet Communities, die nach und nach ihre Freundinnen ersetzten. Tagelang ist sie auf Instagram, um ihre Vorbilder anzuhimmeln: @nutellacinderella, @fullyrawkristina, @christieswadling, @freeleethebananagirl. Sie macht sich Listen von Dingen, die essbar sind. Und vor allem von Dingen, die nicht essbar sind. Immer mehr definiert sie sich über ihre Mahlzeiten. Es geht nicht mehr um Genuss, sondern um Erfolg. Verzicht spricht für Charakterstärke, gesunde Ernährung ist die Formel zu vollendeter Schönheit. In den Communities, die sie besucht, gelten Menschen mit anderen Essgewohnheiten als „unrein“. Gesund und ungesund stehen gleichbedeutend für Gut und Böse. Auf myproana.com schüttet eine Userin ihr Herz aus:

„Guys I just ate chips and i want to cry. Idk what I was thinking! I was just really craving them and I thought it would be ‚okay‘ … I hate myself so fucking much … Has anybody else ever been in a similar situation?“

Die Antworten fallen einseitig aus. Jingles6 schreibt: „Learn from your mistakes. Can't change the past but can change the future. Let this be a reminder to you not to do it again.“

Im Gegensatz zu Menschen mit Zwangsstörungen sind sich Orthorektiker der Problematik ihrer Krankheit nicht bewusst. Im Gegenteil: Sie sehen sich häufig als bessere Menschen. Einsame Ernährungscowboys mit einem Halm Weizengras zwischen den Zähnen und ein paar Goji-Beeren in der Tasche. „Die psychosozialen Folgen und der Leidensdruck werden als notwendiges Übel in Kauf genommen“, erklärt Martin Greetfeld. Immer wieder spricht er vom Missionierungsdrang seiner Patienten, auch ihm gegenüber, dem Therapeuten und Arzt.

Seit ein paar Jahren häufen sich Fälle von orthorektischem Verhalten in seiner Klinik. Im aktuellen Trend zum #cleaneating sieht er eine zunächst nachvollziehbare Gegenbewegung zur sich immer stärker technisierenden Convenient-Gesellschaft. „Massentierhaltung, Lebensmittelskandale und Ernährungskrisen politisieren unser Essverhalten. Im Zeitalter von Big Data, Globalisierung und der Entfremdung von den Nahrungsmitteln geht es vielen Menschen um Besinnung und Reduktion auf das Wesentliche.“ Essen als Form des Protests. Am Konsum und am Raubbau an der Erde.

Die Ernährung spielt für die Selbstoptimierung eine sehr intime Rolle, denn sie symbolisiert unseren Status. 

Während diese Theorie durchaus romantisch anmutet, bestimmt in vielen gesellschaftlichen Bereichen jedoch auch der Leistungsdruck das Essverhalten. Die Generation der Wendekinder wuchs auf mit dem Versprechen, alles im Leben erreichen zu können. Daraus entwickelte sich mit den Jahren eine umgekehrte Beziehung: Wenn du alles im Leben erreichen kannst, dann hast du gefälligst auch nach dem Bestmöglichen zu streben! Aus der Möglichkeit zum Erfolg erwuchs eine Pflicht, ein Verantwortungsgefühl, dem man nach bestem Gewissen gerecht zu werden hatte. Henning Sußebach, der Journalist und Autor, hat mit Liebe Sophie einen Brief in Buchform an seine Tochter veröffentlicht, um sie durchs Leben zu leiten. Darin zitiert er einen Pfarrer, nach dessen Aussage sich die meisten Beichten heutzutage nicht auf etwas Vergangenes, sondern auf die Zukunft beziehen. Selbstoptimierung steht heute im Vordergrund, auch beim Thema Gesundheit. Krankheit kann sich niemand leisten. Das schlechte Gewissen überwacht jeden der Schritte.

 Josephine sagt: „Ich wollte perfekt sein.“ Und präzisiert dann: „Es gibt kein perfekt. Man muss immer besser sein.“

Die Ernährung spielt für die Selbstoptimierung eine sehr intime Rolle, denn sie symbolisiert unseren Status. Der Teller vor uns verrät etwas über unsere Haltung, unser Selbstbewusstsein, unsere gesellschaftliche Klasse. Und das nicht nur beim gemeinsamen Abendessen. Sondern auch auf Instagram, Facebook, bereits in der Supermarktschlange.

Was aber ist das richtige Essen? Wie ernähre ich mich politisch korrekt, nachhaltig, fair und vor allem: gesund? Wer diesen Fragen im Internet nachgeht, findet ein Wirrwarr aus Mythen und Fakten. Bananen machen dick, Grüner Tee entschlackt, Slow Food verlängert das Leben. Hinter jeder Ecke, jedem Link wartet gefährliches Halbwissen, gepaart mit leckeren Rezeptideen und den Links zu unglaublichen Wundermitteln aus Meereskoralle, kolloidalem Silber oder Kurkuma.

Während man als Sportler noch vor nicht allzu langer Zeit gelernt hat, Nudeln und Kartoffeln zur Regeneration zu essen, sind heute Kohlenhydrate, allen voran die Kurzkettigen, out. Vegane Blogs raten zu Hülsenfrüchten und buntem Obst und Gemüse – die Fraktion des Paleo-Lifestyles rät zu Fleisch und Eiern, warnt jedoch vor Hülsenfrüchten und buntem Obst. Wer hat Recht? Und liefert eine Karotte jetzt wirklich das nötige Vitamin A für besseres Augenlicht oder nur Bauchfett durch zu viel Zucker?

Schnell wird klar: Wer ganz sicher gehen will, muss rigoros ausschließen. Veganer verzichten auf Fleisch, Fisch und Tierprodukte, Paleo-Lifestyler auf Erbsen, Bohnen und Linsen. Äpfel und Bananen lassen angeblich den Blutzucker ansteigen, genauso wie besagte Möhren und Kartoffeln. Getreide hat zu viel Gluten, Säfte und Softdrinks zu viel Zucker, über Alkohol braucht man gar nicht erst zu reden. 

Schnell wird es rar auf dem Teller. Doch zum Glück gibt es die beliebten Superfoods: Chiasamen, Hanfsamen, Acaí, Quinoa, Avocado und all die anderen Wunderfrüchte, die den Vitamin- und Mineralstoffhaushalt schon in homöopathischen Dosen ins Gleichgewicht bringen. Andenkörner wie Quinoa fallen allerdings raus, wenn die Mahlzeit nachhaltig, also regional sein soll. Genauso Ananas, Avocado oder Acaí. Den Chia- und Hanfsamen schiebt dazu das Magazin Ökotest einen Riegel vor: In seiner April-Ausgabe spricht es 15 von 22 Superfoods die Noten mangelhaft bis ungenügend aus. Die Gründe: Pestizide, Mineralöle, Schimmelpilze.

Ganz schön ernüchternd. Sicher ist man nach dieser ungefilterten Internet-Recherche offenbar nur bei Gemüse, Wasser und Tee. Am besten aus dem eigenen Garten. Immerhin, alle Arten von Kohl sind erlaubt, dazu können Delikatessen wie Spargel oder Kürbis den Teller verzieren. Als letzte Hürde wartet jedoch der Blick auf den Küchenkalender. Mitte Mai, die Kohlsaison ist längst vorbei, und auch der Spargel wird bald zu blühen beginnen.

So bleibt einem nach vollendeter Recherche nur noch Luft, Wasser, Tee und verantwortungsvolle und wohl verhütete  Liebe, um sich gesund und bewusst zu ernähren.

Orthorexia Nervosa ist, so viel kann man sagen, offenbar eine Wohlstandkrankheit. Ein Phänomen der Moderne – was den Leidensdruck der Betroffenen nicht kleiner macht. In manchen Bereichen nimmt sie fast religiöse Züge an. Jesus von Nazareth, eine der Lifestyle-Ikonen seiner Zeit, sagte dazu übrigens: „Nicht das, was in den Mund hineinkommt, macht den Menschen unrein, sondern das, was aus ihm herauskommt.“ Aber der war ja auch Fresser und Weinsäufer. 

Dieser Artikel wurde zum ersten Mal am 16.5.2016 veröffentlicht und am 18.6.2020 noch einmal aktualisiert. 

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