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"Mörder sein ist ein Scheißgefühl"

katharina Bitzl

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An einem Nachmittag im Februar hockt Günther Steiner in Jogginghose am Tisch seiner elf Quadratmeter großen Zelle, faltet vor sich die Hände übereinander, holt tief Luft und sagt: „Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich bin zurecht eingesperrt. Ich habe einen Menschen umgebracht. Und das macht man nicht. “

Seit fünfzehneinhalb Jahren sitzt Günther Steiner, der eigentlich anders heißt, hinter den meterhohen, grauen Mauern der Justizvollzugsanstalt Straubing – einem Ort, an dem etwa ein Viertel der rund 800 männlichen Strafgefangenen eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.

Fünfzehneinhalb Jahre. Vor fünfzehneinhalb Jahren waren Michael Jackson und die No Angels in den Charts, im Kanzleramt saß Gerhard Schröder. Die Menschen benutzten ein Modem, um ins Internet zu gehen. In Günther Steiners Welt veränderte sich in den vergangenen fünfzehneinhalb Jahren fast nichts. Er wird sich verändern müssen, wenn diese Zeit vorbei ist.

In den nächsten Monaten kommt er frei, wann genau, müssen drei Richter noch entscheiden. Einen Vorgeschmack auf sein neues, altes Leben hat er schon bekommen. Er durfte Hafturlaub nehmen, Landshut und Regensburg besuchen. In einem knapp 100 Seiten langen Gutachten steht, er sei jetzt „resozialisiert“.

Trotzdem ist Steiner nicht nur glücklich darüber, dass er raus darf. Er fragt sich, ob er wieder hineinfindet in die Welt, die ihm so lange verschlossen war, oder ob er ausgeschlossen bleibt, gezwungen zu einem Leben im Daneben: Wird er Arbeit finden? Wird er Freunde finden? Wird er ausgegrenzt? Stigmatisiert? Er weiß, wie sich das anfühlt. „Beim allerersten Ausgang glaubte ich, jemand hätte mir das Wort ‚Mörder‘ auf die Stirn gebrannt“, sagt er.

Seine Schwester schenkte ihm ihr altes Smartphone. Er nennt es „iPhone Galaxy S4“.

Günther Steiner erzählt seine Geschichte mit großer Gefasstheit und noch größerer Ehrlichkeit. Er habe nichts zu verbergen, sagt er mit tiefer, rauchiger Stimme. Steiner ist inzwischen 60 Jahre alt, das graue Haar ist schütter, er trägt ein Gebiss, „ansonsten bin ich fit“, sagt er und klopft sich mit der Faust auf die Brust. „Alle zwei Tage Liegestütze und Kniebeuge in der Zelle.“

Steiner will auch mit der Technik Schritt halten. Kaum etwas hat die Welt im vergangenen Jahrzehnt so umgekrempelt wie die Digitalisierung. Als Steiner ins Gefängnis ging, gab es noch kein Facebook, die Leute benutzen Handys vor allem zum Telefonieren oder Snake-Spielen.

Seine Schwester war die erste, die ihm zeigte, wie ein Smartphone funktioniert. Sie schenkte ihm ihr altes, er nennt es „iPhone Galaxy S4“. Ob es nun ein iPhone oder ein Samsung Galaxy S4 ist, das weiß Steiner nicht genau. „Ist Wurscht“, sagt er, „das Ding ist mir ein Böhmisches Dorf.“ Tausend Funktionen habe es, „dabei will ich nur telefonieren und SMS schreiben.“ Früher, bei seinem Nokia 5110, standen die Tasten schön nach außen, sagt er, da sei ihm das Tippen leicht gefallen. Heute drücke er immer auf zwei Buchstaben gleichzeitig, „weil meine Finger so dick und die Tasten so klein sind.“ 

Steiner findet es bedenklich, wie viele Menschen heute beim Laufen nicht mehr auf die Straße, sondern nur auf ihr Telefon schauen. „Ich weiß, warum“, sagt er, „die wollen im Internet sein.“ Ihm ist das Internet suspekt. Es frisst sein Gesprächsguthaben. Er hat es neulich ausstellen lassen, in einem Handyladen. „Ich wusste nicht, dass ich dafür im Menü nach links wischen muss“, sagt Steiner und fuchtelt mit dem Zeigefinger durch die Luft.

 

Ob er doch irgendwann mal Internet-Banking macht? „Niemals“, sagt Steiner. Damit werde viel Schindluder getrieben, hat er gelesen. „Wer es sich leisten kann, Geld zu verlieren, soll es machen. Ich kann es nicht.“

 

  • "Irgendwann war ich Frustsäufer"

 

Die Welt ist hektischer geworden, sagt Günther Steiner. Er mag keine Hektik und keine großen Menschenmengen. Wenn er aus dem Gefängnis kommt, will er in eine Kleinstadt ziehen. Früher hatte er eine Fünfzimmer-Altbauwohnung mit Balkon. Jetzt wäre er froh, etwas Bezahlbares zu finden. „Einzimmer, 40 Quadratmeter reicht“, sagt Steiner, „Hauptsache schnuckelig.“ Fragt man ihn, auf was er sich in Freiheit am meisten freut, sagt er: „Auf meinen eigenen Wohnungsschlüssel.“ In der JVA schließt ihn der Beamte jeden Tag halb sieben ein.

 

Er sei selbst schuld, dass er im Gefängnis sitzt. Auch wenn seine Mutter Alkoholikerin war und sich viel mit seinem Vater stritt. Beim kleinsten Problem habe sie zur Flasche gegriffen, „irgendwann war ich auch Frustsäufer.“

 

Als er an einem Sommertag im Streit den neuen Freund seiner Ex-Freundin absticht, hat er sich zuvor in einen Rausch getrunken und zu viele Drogen genommen. Er verlor die Kontrolle. „Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin“, sagt Steiner. „Mörder sein ist ein Scheißgefühl. Ich wünsche es keinem.“ Weil ihn die Schuldgefühle quälten, stellte er sich vier Tage nach seiner Tat der Polizei.

 

„Welcher Freund kommt dich fünfzehneinhalb Jahre besuchen?“ 

 

Wenn jemand nach vielen Jahren aus dem Gefängnis kommt, hat er oft Probleme, wieder Anschluss zu finden. Wer Frau oder Familie im Rücken hat, findet leichter zurück in die Gesellschaft, sagt ein Sozialarbeiter der JVA Straubing. Günther Steiner hat nur noch seine Schwester. Die besuchte ihn immer wieder, fuhr selbst für ein paar Stunden Hunderte Kilometer nach Bayern. Sie stellte keine großen Fragen, sie hörte einfach zu.

 

In den ersten Jahren seiner Haft kamen noch seine Ex-Frau und der gemeinsame Sohn zu Besuch. Seine Ex-Frau brachte sich später um, sein Sohn war das letzte Mal 2006 da. Steiner sagt: „Ich hoffe, es geht ihm gut.“ Er habe noch einen kleinen Freundeskreis, der genüge ihm, sagt Steiner, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass von seinem kleinen Freundeskreis keiner übrig geblieben ist. „Verstorben“ oder „nicht mehr gemeldet“, sagt er dann. „Welcher Freund kommt dich fünfzehneinhalb Jahre besuchen?“ 

knast schreibmaschine

Vor ein paar Tagen hat Steiner seine erste Bewerbung auf einer alten Schreibmaschine getippt.

Illustration: Katharina Bitzl

Seine größte Angst ist, nach der Entlassung keinen Job zu finden. Durch die Zeit hinter Gittern fehlen Steiner über 186 Monate Rentenbeiträge. Als Überbrückungsgeld bekommt er einmalig maximal 1800 Euro. Findet er keinen Job, bekommt er Arbeitslosengeld I, später Hartz IV und ab 2021 theoretisch 650 Euro Rente. „Davon kann ich nicht leben und nicht sterben“, sagt Steiner, außerdem habe er 4500 Euro Gerichtskosten ausstehen. „Ich muss also noch ein bisschen schaffen.“

 

Im Gefängnis in Straubing hat Steiner 14 Jahre in der Küche gearbeitet, er steht dort jeden Morgen um kurz nach fünf Uhr am Herd. Steiner ist Vorarbeiter, sechs Häftlinge hat er unter sich. Er entscheidet, wer die Gurken schnippelt und wer das Fleisch schneidet. Die Kollegen schätzen ihn, er schätzt sein gewohntes Umfeld. Nach der Haftentlassung will er wieder in einer Großküche arbeiten. Da kennt er sich aus, da hat sich in den vergangenen 15 Jahren nicht alles verändert. Gasherde und Pfannen muss man nicht mit dem iPhone steuern.

 

Vor ein paar Tagen hat Steiner seine erste Bewerbung an eine Arbeitsvermittlung geschrieben, in seiner Zelle, auf einer Olympiaschreibmaschine. Er schrieb auch, dass er im Gefängnis vier Semester Jura studiert hat – Strafrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, über die Fernuni Hagen. Die Kurszertifikate hat er sich in Klarsichtfolien an seinen Kleiderschrank geklebt. „Meinen Stolz“, nennt er sie und streicht mit der flachen Hand darüber.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Häftlinge im Gefängnis ihren Schulabschluss nachholen oder studieren. Doch die meisten ehemaligen Gefangenen haben auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chancen, sagt Norbert Schwarz, Resozialisierungsbeauftragter der Arbeitsagentur München. „Von zehn Kunden finden in den ersten sechs Monaten nach Haftentlassung im Schnitt zwei bis drei eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.“

 

Steiner hofft trotzdem. Er will wieder ankommen in der Gesellschaft. Er habe keine Lust, das Klischee vom arbeitslosen „Ex-Knacki“ zu erfüllen. Zur Not würde er auch einen 450-Euro-Job machen, „bloß nicht rumhängen“, sagt er.

 

Ginge es nach ihm, würde er alle Angelegenheiten schon in der JVA regeln. Aber dort dauern solche Dinge. Will er telefonieren, muss er einen Antrag stellen. Will er zum Arbeitsamt, auch. Will er eine Bewerbung per Mail verschicken, muss das sein Betreuer machen – ein Rentner, der sich ehrenamtlich um ihn kümmert.

 

Von den vergangenen fünfzehneinhalb Jahren seien die zurückliegenden Monate furchtbar langsam vergangen. „Weil der Kopf weiß: Das Ende ist nah,“ sagt er. Ein Kollege aus der Küche habe ihm vor kurzem zugerufen: „Du bist doch eh bald wieder hier, Günther!“ Steiner sagt, er gehe nicht zurück ins Gefängnis. Er will noch mal mitten rein ins Leben.

 

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