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„An einigen Orten üben Salafisten eine Art Staatsgewalt aus"

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Fünf Jahre ist es her, dass junge Tunesier auf die Straße gingen und den langjährigen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali stürzten. Unter dem Namen „Arabischer Frühling“ setzte sich die Jasminrevolution in Nachbarstaaten fort. Seither hat die tunesische Bevölkerung eine neue verfassungsgebende Versammlung gewählt und auch Präsidentschaftswahlen abgehalten. Doch insbesondere für die Jugend des Landes hat sich die Situation nicht verbessert. Wirtschaftlich steht das Land heute schlechter da als zu Zeiten Ben Alis. Es gibt keine Jobs, keine Perspektive. Dafür hat der Einfluss islamistischer Strömungen auf die Gesellschaft zugenommen. Sie versuchen, die Gesellschaft zu unterwandern.

Besonders deutlich bekommen dies Künstler wie Dya Hammadi zu spüren. In seiner Heimatstadt Regueb wurde der 29-jährige Rapper bereits zweimal Opfer islamistischer Mobs. Dya hat vor einem Jahr ein neues Leben begonnen, im Exil in Tunis. Während des Interviews sitzt Dya in der Wohnung seines Freundes Malek Kemiri, Rapper und Dokumentarfilmer, der zwischen Französisch und Arabisch übersetzt. Beide leben in WGs im selben Haus, einem Hort frei denkender Musiker und Filmemacher, die aktuell wieder mehrmals pro Woche auf die Straße gehen. Das Gespräch hatte sich mehrfach verschoben: „Wir waren demonstrieren“, erklärt Malek, „es steht viel auf dem Spiel.“ 

jetzt: Dya, du führst dieses Telefonat von Tunis aus – nicht aus Regueb, deiner Heimatstadt. Was ist passiert?

Dya Hammadi: Ich musste Ende 2014 ins Exil gehen. Wäre ich in Regueb geblieben, wäre ich möglicherweise nicht mehr am Leben.

Weshalb?

In vielen tunesischen Kleinstädten hat sich in den vergangenen Jahren der Einfluss salafistischer Gruppierungen, die eine fundamentalistische Ausprägung des Islam praktizieren, deutlich verstärkt. Das ging schon 2012 los. Alles wurde anders. In ländlichen Regionen, darunter auch in Regueb, errichteten Sie eine Art Parallelstaat. Ein Mikrostaat im Staat, regiert von Radikalen. In Regueb haben sie die tunesische Flagge heruntergerissen und eine Salafisten-Flagge im Ortszentrum gehisst. 

Ein Staat im Staat? Das lässt an den Islamistischen Staat denken.

So weit sind wir in Tunesien noch nicht. Aber Fakt ist, dass die Salafisten an einigen Orten von der Polizei nicht behelligt werden, wenn sie jene sanktionieren, die nicht nach ihren Vorstellungen leben. Sie üben eine Art Staatsgewalt aus. Und die ist sehr gewalttägig.

Du warst selbst Ziel ihrer Attacken. Was haben sie getan?

Es ging damit los, dass sie mich auf Facebook beleidigten. Sie nannten mich einen Kommunisten, einen Ungläubigen, einen Marxisten. Ziemlich krudes Zeug. Eines Tages, im November 2013, saß ich im Internetcafé von Regueb und diese Typen kamen rein. Ungefähr 20. Mit ein paar von ihnen war ich sogar in der Schule. Sie schlugen mich, warfen mich auf den Boden und traten mich mit Füßen. Noch mehr schockierte mich jedoch, was ein Jahr später geschah.

Was ist passiert?

Ein Typ, dessen Namen ich nicht nennen möchte, bedrohte mich. Ich solle aufhören zu rappen und mich westlich zu kleiden. Gemeinsam mit seinen Begleitern schleppte er mich zum Friseur. Dort zwangen sie einen Zwölfjährigen, meine Dreadlocks abzuschneiden. Er schnitt mich dabei mehrmals in die Kopfhaut. Danach brachten sie mich in die Moschee. Der Imam las aus dem Koran und ermahnte mich, ich solle „dem wahren Pfad des Islam“ folgen. Nachdem sie mich laufen ließen, packte ich sofort meine Tasche und nahm den ersten Bus nach Tunis.

"Ich wage es bis heute nicht, nach Regueb zurückzukehren, wo meine Familie lebt."

Die Polizei schritt nicht ein?

Das ist genau das, was ich vorhin meinte. Der Staat verschließt die Augen. Das Café liegt nicht einmal 300 Meter von der Polizeistation entfernt. Die Beamten wurden sofort alarmiert, aber sie trafen erst nach einer Dreiviertelstunde ein. Die lassen die einfach machen. 

Was hast du getan, um ihren Zorn zu erregen?

Eine Menge. Gemeinsam mit Freunden hatte ich vor ein paar Jahren ein Künstlerkollektiv gegründet und eine Garage gemietet. Es war eine Art Club mit dem Namen Sa’aaliq, was soviel bedeutet wie „Die Punks“. Wir haben dort Konzerte gegeben, Fotoausstellungen organisiert, Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt. 2011 haben wir unter dem Titel „Die Stimme der Würde“ zum ersten Mal das „Festival der Revolution“ organisiert. Daher kenne ich auch Malek. Meine und unsere Überzeugung war es, dass die Kunst ein wunderbares Ausdrucksmittel dafür ist, was diese Revolution sein sollte. Aber allein unser Look – längere Haare, kein Islamistenbart – lässt uns in ihr Visier geraten.

Auch deine Freunde?

Sie haben wohl vor allem an mir ein Exempel statuiert. Wie gesagt, das sind Typen, mit denen ich früher in die Schule gegangen bin.

Was ist mit ihnen geschehen?

Sie wurden radikalisiert. Viele von den Leuten, die uns heute terrorisieren, waren vorher im Gefängnis. Dort sind sie unter radikale Leute geraten, die ihnen das Gehirn gewaschen haben. Ich kann ja verstehen, dass man frustriert ist. Das sind wir alle. Als junger Mensch hast du hier einfach keine Chance. Es gibt überhaupt keine Arbeit, keine Perspektive. Unsere ökonomische Situation ist fatal. Zudem sind das Bildungs- und Gesundheitswesen in den vergangenen Jahren rapide schlechter geworden. Wir sind ja alle in derselben Situation. Aber ich wollte die Dinge verändern, mich bilden. Sie lachten mich schon früher aus, weil ich Gedichte las und Texte schrieb. Jetzt haben sie alles zerstört, was ich in Regueb aufgebaut hatte.

Hast du die Salafisten in deinen Rap-Texten direkt kritisiert?

In meinen Texten habe ich seit der Revolution immer wieder gefordert, dass wir ein freies, demokratisches Land werden, in dem jeder seine Meinung äußern und nach seiner Façon leben darf; und in dem Religion Privatsache ist. Ich habe dabei auch direkt die Regierung adressiert.

 

Und die Salafisten?

Waren und sind auch Thema meiner Texte. In einem Lied singe ich, dass die USA und Bin Laden sie hervorgebracht hätten. Meine Musik hat immer meine politische Haltung ausgedrückt. Ich habe mich immer klar für die Freiheit, den Respekt der Würde des Einzelnen und für die Meinungsfreiheit ausgesprochen. Und ich habe auch direkte Kritik an den Extremisten geübt. Ich habe sie nicht beschimpft, so wie sie mich. Ich habe zum Beispiel gesungen, dass sie den Koran zwar auswendig kennen, aber nicht das leben, das drinsteht. 

 

Nun bist du im Exil in der Hauptstadt. Hast du Angst?

Ich wage es bis heute nicht, nach Regueb zurückzukehren, wo meine Familie lebt. Auch nicht für einen Besuch. Aber ich werde immer Musiker bleiben und ein Stachel im Fleisch des Daesch (abwertende, in arabischen Ländern übliche Bezeichnung für den Heiligen Krieg der Islamisten, Anm. d. Red.) sein. Nun eben aus einer anderen Lebenssituation heraus.

 

"Mehrere der Leute, die mich im Internetcafé verprügelt haben, schlossen sich später dem Islamischen Staat in Syrien an, und fünf von ihnen sind mittlerweile als Selbstmordattentäter ums Leben gekommen."

 

Wie gefährlich ist das Dasein als kritischer Künstler?

Wir leben damit, ständig mit einem Fuß im Gefängnis zu stehen, einem Hort der Salafisten. Dafür muss man noch nicht einmal auf Demonstrationen gehen oder kritische Texte veröffentlichen. Alleine unser Lebensstil macht uns nach den aktuellen Gesetzen strafbar. Viele der Leute, die während dieses Interviews mit im Raum sitzen, müssten demnach im Gefängnis sein. Das Zusammenleben als Unverheiratete steht unter Strafe, Homosexualität ... Dabei wollen wir eigentlich nur frei denken, atmen, leben können. So wie ihr in Deutschland. Wir sitzen mit dieser Lebenseinstellung zwischen den Stühlen: zwischen der legitimierten Staatsgewalt und der Gewalt der Extremisten.

 

Ist die Revolution also gescheitert?

Zumindest hat die Revolution keine neuen Freiheiten gebracht, und diese angeblich „revolutionäre Regierung“ ist wirklich null revolutionär. Viele junge Menschen, die für ihre freiheitlichen, demokratischen Rechte einstanden, sind ums Leben gekommen. Die Stimmung heizt sich auf. Die fatale ökonomische Lage bereitet dann den Nährboden für Extremisten. Mehrere der Leute, die mich im Internetcafé verprügelt haben, schlossen sich später dem Islamischen Staat in Syrien an, und fünf von ihnen sind mittlerweile als Selbstmordattentäter ums Leben gekommen.

 

Wie ernst ist deiner Meinung nach die Bedrohung, dass Tunesien kippt?

Wir sind nicht Afghanistan, Syrien oder Libyen. Aber es steht viel auf dem Spiel. Und wir werden nicht aufhören, für unsere Überzeugung auf die Straße zu gehen. Die Gesichter der Gleichgesinnten, in die ich erst heute wieder auf einer Demonstration geblickt habe, lassen meine Hoffnung nicht sterben.

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