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„Also ich bin ja so ein Süßer!“
Möchte der Volksmund noch eine Nachspeise speisen, bedient er sich dabei einer ganzen Reihe von Hauptsätzen. Sie haben alle den gleichen Zweck: Freispruch vom Verdacht der sinnlosen Völlerei. Denn während Suppe und Hauptgericht anerkannt wichtige Bestandteile einer Mahlzeit sind, gilt das Dessert seit Konrad Adenauer mehr so als Swarowski-Krönchen unter den Nahrungsimporten. Man muss sich dafür beinahe so stark rechtfertigen, wie für eine angezündete Zigarette im Kölner Dom. Der obige Hauptsatz also soll die Zuckersucht als liebenswerte Eigenheit kaschieren. Man ist dabei in dem gleichen Maß „Süßer“, wie man bei anderen Situationen auch „Flachlandtiroler“ oder „Morgenmuffel“ ist: Ehrliche Haut, aus der man gerade nicht raus kann, hihi. Die Umwelt nimmt derartige Geständnisse nachsichtig zur Kenntnis, wohingegen sich die Ansage: „Ich bin ja eher so ein Deftiger-Tiger, roarrr!“ bisher nicht an den Kaffeehaustischen durchsetzen konnte.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Anatomisch Interessierte führen als Grund für die kapitale Tiramisuschnitte auch gerne den leeren Dessertmagen an, der freilich, das sei hiermit aufgeklärt, nur eine Erfindung der Schokolade-Industrie ist. Menschen mit gut ausgeprägtem räumlichen Denkvermögen brillieren dagegen mit der Feststellung: „Für ein Dessert ist immer Platz!“ Wer kann da widersprechen? Man steckt nicht drin, im Dessertmagen des anderen. Ein Umstand, den ich im Zusammenhang mit Süßspeisen schon immer erörtern wollte, ist die Causa Kaiserschmarrn. Dieser wird in Almhütten und Berggasthöfen mit der gleichen Vehemenz eingefordert wie Tomatensaft im Flugzeug und gute Laune auf Weihnachtsfeiern. Aber nicht nur das – über jede mir bekannte Almhütte kursiert das Gericht-Gerücht, demnach der Kaiserschmarrn dort „Kult“ wäre. Anders gesagt: Sobald irgendwo über 600 Höhenmeter ein Kaiserschmarrn auf der Karte steht, ist es unweigerlich the Kaiserschmarrn schlechthin. Man wird dann dort von Wirten und Hüttenstammkunden genötigt, einen zu nehmen, andernfalls, sagen sie, hätte man sein Leben verwirkt. Also bestellt man den legendären Kaiserschmarrn, auch wenn man eigentlich gar nicht so’n Süßer ist bzw. sämtliche Dessertmagen längst desertiert haben. Was man dann schließlich in einer schon stark kultverdächtigen Eisenpfanne erhält, ist ein Kaiserschmarrn. Um ihn zum Kultschmarrn zu befördern, wurde er in nicht haushaltsüblichen Mengen angehäuft und vom Wirt mit gutturalen Lauten serviert. Und weil es in diesen friedlichen Zeiten wenig Faszinierenderes gibt, als Essensportionen, derer man nicht Herr wird, erzählt man die Geschichte vom legendären Kaiserschmarrn weiter und von allen Hütten der Alpen trägt sich diese Kunde ins Tal und in die Stadt hinein. Dort trifft sie auf die Kunde vom Kult-Schnitzel, die auf die gleiche Art und Weise entsteht, nur eben ohne Höhenluft. Für das Essen dieser grässlichen quadratmetergroßen Kult-Schnitzel in Studentenkneipen entschuldigt sich allerdings keiner. Dabei wäre das zerknirschte Bekenntnis „Ich bin ja irgendwie so'n Riesenschnitzel- und Kult-Kaiserschmarrn-Dödel“ viel zeitgemäßer, als die altmodische Dessert-Demut.