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„Hab’ ich auf Spiegel Online gelesen!“
Nicht sehr oft denke ich an die Erfindung der Sonnenuhr. Es muss aber dufte gewesen sein, damals. Endlich hatten die Menschen etwas, das ihren Tag einteilte, das sie verfluchen konnten, wenn es zu schnell verging und verfluchen, wenn es zu langsam verging. Endlich war das Dasein nicht mehr nur einfach da, sondern in eine vernünftige Form gebracht. Wie Kuchenteig, der ohne Backform ja nur was ganz Dummes, Fläziges ist und aus dem auch erst mit Form etwas wird, das alle gerne haben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ich habe, das sagt mir mein Spiegelbild, die Sonne seit etwa Anfang November nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht regelmäßig genug, um meinen Tag danach auszurichten. Außerdem verbringe ich die meiste Zeit des Tages in einem Nordzimmer und kann deswegen froh sein, wenn mal ein sonnengelber Laster auf der Straße vorbeifährt. Sonnenuhr funktioniert also nicht, deswegen strukturiere ich meinen Tag mit Spiegel Online. Dieses ist schließlich ein Konkurrenzprodukt, das es im Auge zu behalten gilt. Mit dieser vermeintlichen Verpflichtung schlich sich einst meine SpiegelOnline-Sucht ein. Sie ist, wie jede Sucht, eine dumme Hassliebe, die ich an manchen Tagen im Griff habe, an vielen aber gar nicht. An den besonders schlimmen Tagen, bin ich so bräsig und kreativ desorientiert, dass ich nichts anderes vermag als auf das SpiegelOnline-Bookmark zu klicken. Und zwar in einem zehn Minuten-Takt auf dessen Genauigkeit die hiesigen Öffentlichen Nahverkehrspersonenbetriebsmittel stolz wären. Ich bin mir dabei zwar bewusst, dass es viele, sehr viele Alternativen gäbe, aber mir fällt dann partout kein anderes Surfziel ein. Stattdessen langweile ich mich lieber alle zehn Minuten neu auf SpiegelOnline und verwünsche die Hamburger, weil sie nicht in der Lage sind, einen frischen Aufmacher zu bringen. Oder wenigstens den Hintergrund mal für mich in neonkhaki zu färben. Das ist natürlich ungerecht, denn auch SpiegelOnline kann sich nicht alle zehn Minuten eine neue Weltkrisen-Hiobsüberschrift ausdenken. Aber welcher Süchtige kann noch gerecht und ungerecht auseinanderhalten? Stattdessen dreht sich meine SpiegelOnline-Stumpfsinnspirale immer schneller. Das Einzige was mir bei so einem akuten Anfall für Sekunden Linderung bereitet ist der kurze Moment in dem die Seite lädt, in dem ich voll Neugier und guter Hoffnung bin – um dann, des ganzen alten Krams gewahr, noch tiefer abzustürzen. Natürlich lese ich bei jedem dieser schrecklichen Besuche auch irgendwas, klicke nach Stunden geschwächt sogar durch die Bilderstrecke oder den Autotest von letzter Woche. Es kam sogar schon vor, dass ich auf die MediaMarkt-Werbung geklickt habe, weil sie das Einzige war, das ich noch nicht kannte. Da ahnte ich, dass ich ernsthaft durcheinander war. Ich entwöhne mich derzeit also, wie sich ein Starkraucher entwöhnt. Momentan bin ich auf acht bis zehn SpiegelOnline-Besuche am Tag runter. Mein Wunsch wäre es auf drei Besuche pro Tag zu kommen, dann hätte ich vielleicht ein normales Leben wie andere auch. Und käme mal wieder öfter an die Sonne.